Schneckenkönige und die Händigkeit von Molekülen

Überprüfen Sie einmal folgende Aussage: Der größte Teil aller Schneckenarten besitzt rechtsgewundene Häuser, wie man auch in dieser Auswahl von Mittelmeerschneckenhäusern erkennen kann.

Bild 1 (Foto: Andreas)


Wenn Sie in Ihrem Garten oder beim nächsten Spaziergang in der freien Natur auf eine Gehäuseschnecke treffen, schauen Sie sich diese deshalb einmal genauer an. Um die Wachstumsrichtung richtig zu beurteilen, hält man die Schnecke so, dass man auf die Spitze schaut. Dann legt man fest, in welche Richtung die Mündung wächst: Mit dem Uhrzeigersinn (rechts) oder gegen ihn (links). Man sollte aber nicht zuviel erwarten: Von etwa 20.000 Weinbergschnecken trägt nur eine ihr Schneckenhaus in Form einer linksgängigen Spirale auf dem Rücken, bei allen anderen Schneckenhäusern dreht sich die Spirale rechts herum, wie auf dem ersten Bild zu sehen ist.

Bild 2 (Fotos: Andreas)


Zur Bestimmung der Drehrichtung ist die Wachstumsrichtung entscheidend!

Da die Weinbergschnecken mit dem linksgewundenen Schneckenhaus so selten sind, werden sie im Volksmund auch als "Schneckenkönige" bezeichnet. Das Schneckenhaus eines "Schneckenkönigs" ist das Spiegelbild des Schneckenhauses einer "normalen" Weinbergschnecke. Aufgrund ihrer Seltenheit werden die Gehäuse dieser Schnecken bei Sammlern mit um die 250 Euro gehandelt. (Dass die Schneckenkönige vor allem in Frankreich gefunden werden, hat folgenden Grund: Franzosen essen gerne Weinbergschnecken, wollen sie aber nicht aus dem Gehäuse pulen. Deshalb gibt es Arbeiter, die mit einem speziellen Gerät die gekochte Schnecke aus ihrem Häuschen lösen - quasi herausdrehen müssen. Die Anwendung des Geräts erfordert also eine bestimmte Drehung. Wenn diese Drehung nicht passt, schauen die Leute genauer hin und sind um 250 Euro reicher geworden...)

So etwas gibt es auch bei Fossilien. Beispiele sind Ammoniten der Kreidezeit. Ammoniten sind normalerweise flache Spiralen, die von beiden Seiten gleich aussehen. Wenn aber aufgrund einer genetischen Veränderung die Spirale nach außen wächst, gibt es zwei Möglichkeiten - wie bei der Schnecke: eine Linksspirale oder eine Rechtsspirale.

 

Bild 3: Links- und rechtsgewundene Ammoniten aus der Kreidezeit
(Bild links: Didymoceras saxonium (früher: Cirroceras polyplocum),
Bild rechts: Hyphantoceras)
(Fotos und Sammlung: Blume)


Auch im Pflanzenreich ist eine bestimmte Drehrichtung als Wuchsform oft vorherrschend. Viele Kletterpflanzen winden sich immer mit derselben Drehrichtung gegen das Licht - egal, ob sie auf der Süd- oder der Nordhalbkugel wachsen. So windet sich der Hopfen stets rechts herum aufwärts (siehe Bild). Er ist einer der wenigen Rechtswinder unter den heimischen Lianen.

Bild 4: Junge Hopfenpflanzen
(Foto: Andreas)


Selbst beim Menschen ist es bekannt, dass sein Körper spiegelbildlich verkehrt aufgebaut sein kann. Situs inversus oder Heterotaxie nennt der Mediziner diese seltene, aber an sich nicht krankhafte Besonderheit in der Anatomie des Menschen, bei der sich alle Organe spiegelverkehrt auf der anderen Seite des Körpers befinden. So liegen z. B. die Leber auf der linken und die Milz auf der rechten Seite.

Und wie steht es mit der Spirale des Lebens, mit der DNA? Die ist gegen den Uhrzeigersinn, also linksherum gewunden. Da sie (anders als ein Schneckenhaus) eine durchgehend gleichförmige Spirale bildet, ist es egal, von welcher Seite man sie betrachtet: Sie windet sich immer nach Links.


Doch was hat das alles mit der Chemie der Kohlenwasserstoffe zu tun?
Die Antwort findet man in einer genaueren, räumlichen Betrachtung bestimmter Moleküle. Besitzt nämlich ein Molekül vier verschiedene Gruppen ("Substituenten") an einem zentralen C-Atom, gibt es zwei Möglichkeiten zur Darstellung.

Ein einfaches Beispiel für solch ein Kohlenwasserstoffmolekül ist ein Isomeres des Heptans, 3-Methylhexan.

Hier trägt das mit dem Stern gekennzeichnete C-Atom vier verschiedene Gruppen. Deshalb nennt man es auch asymmetrisches C-Atom.

(1) Wasserstoffatom
(2) Methylrest
(3) Ethylrest
(4) Propylrest

Wie man erkennen kann, lassen sich die beiden Moleküle durch räumliche Drehung nicht miteinander zur Deckung bringen. Sie verhalten sich wie Bild und Spiegelbild zueinander. Wie die rechte und linke Hand eines Menschen (oder wie die normale Weinbergschnecke und "Schneckenkönig") lassen sie sich nicht aufeinander abbilden.

Aufgrund dieses Vergleichs nennt man solche Molekülpaare händig oder chiral (gr. chiros = Hand). Die klassische Isomeriedefinition bietet keine Möglichkeit zwei chirale Moleküle zu unterscheiden, da bei ihnen neben der Summenformel auch die chemischen und physikalischen Eigenschaften - bis auf eine Ausnahme (s. u.) - identisch sind. Wir finden hier also eine spezielle Art der Isomerie.

Bild und Spiegelbild eines Moleküls sind spezielle Stereoisomere, chirale Stereoisomere, und werden auch als Enantiomere bezeichnet. Die Natur hat quasi eine Vorliebe für Händigkeiten verschiedener Biomoleküle entwickelt. Viele Moleküle, die eigentlich als links- und als rechtshändige Version in der Natur vorkommen müssten, besitzen alle die gleiche Händigkeit (links oder rechts). Die Ursachen für das Phänomen der Händigkeit in der belebten Natur sind noch nicht geklärt. Auf jeden Fall ist eine genetische Ursache nicht auszuschließen. Bei den Biomolekülen wie den Aminosäuren oder Zuckern liegt es daran, dass die sie synthetisierenden Enzyme ebenfalls chiral sind.


Chirale Verbindungen sind optisch aktiv
Wir sprachen eben von einer Ausnahme, an der man Enantiomere letztlich unterscheiden kann: Das ist die so genannte optische Drehung. Lässt man nämlich polarisiertes Licht auf die Enantiomere einwirken, so bewirken sie eine Veränderung des Lichtvektors, die man als "Drehung" bezeichnet. Solche Verbindungen sind deshalb "optisch aktiv". Drehen die Lösungen oder Kristalle den Vektor nach rechts, so ist es eine (+)-Form. Andernfalls ist es die (-)-Form. Dazu gibt es noch die Bezeichnungen D und L. Hiermit bezeichnet man die absolute Konfiguration der Moleküle.

Zur Benennung von zwei Enantiomeren findet man in der Literatur eine weitere, moderne Möglichkeit, die Unterscheidung in (R)- und (S)-Form. Näheres zu dieser etwas komplizierteren Nomenklatur findet man auf dieser Seite für Spezialisten: (R)- und (S)-Form nach Cahn-Ingold-Prelog.


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Letzte Überarbeitung: 04. Dezember 2007, Dagmar Wiechoczek