4.2.1 Piaget
Eine weit verbreitete Orientierungshilfe für die kognitive Entwicklung von Kindern zwischen null und fünfzehn Jahren ist die von dem Schweizer Psychologen Jean Piaget (1896-1980) entwickelte Stadientheorie [6].
Sie besteht aus folgenden vier Stadien:
1. Sensomotorisches Stadium | 0-2 Jahre |
2. Präoperatives Stadium | 2-7 Jahre |
3. Konkret-operationales Stadium | 7-12 Jahre |
4. Formal-operationales Stadium | 12-15 Jahre |
Die Altersangaben dienen nur als Richtwerte und können von Individuum zu Individuum variieren [6].
Im sensomotorischen Stadium beschränkt sich die kognitive Entwicklung des Kindes auf
die Sinneserfahrungen, die es in dieser Zeit durch Fühlen, Sehen, Hören, Schmecken und
Ertasten macht.
Erst im präoperativen Stadium gelingt es dem Kind zunehmend, Handlungen zu verinnerlichen.
Außerdem entwickelt es in diesem Stadium die Fähigkeit, Gegenstände und Handlungen durch
gesellschaftlich vereinbarte Zeichen wie etwa Worte, Symbole oder Bilder zu ersetzen.
Allerdings ist es in diesem Stadium noch nicht in der Lage, Kausalbezüge herzustellen.
Das Denken des Kindes ist noch sehr gegenstandsbezogen.
Erst im nächsten Stadium, dem konkret-operationalen Stadium, bildet sich das logische
Denken im Sinne von "Wenn...,dann...."-Beziehungen aus.
Nun ist es dem Kind möglich, geistige und logische Handlungen in der Vorstellung
nachzuvollziehen. Wie der Begriff "konkret-operational" schon andeutet, braucht das Kind,
um kognitive Operationen durchzuführen immer noch konkrete Gegenstände, auf die es sich
gedanklich beziehen kann.
Erst in der letzten Entwicklungsphase, dem Stadium der formalen Operationen, gelingt ihm
immer mehr das abstrakte, nicht mehr auf konkrete Gegenstände bezogene Denken [6].
Die Untersuchungen und Erkenntnisse Piagets beeinflussen bis heute den Aufbau unseres
Bildungssystems. Deutlich wird das vor allem beim naturwissenschaftlichen Unterricht an
Schulen. Die Fächer Physik, Biologie und Chemie werden in den meisten Bundesländern erst
ab Klasse 5 (Sekundarstufe I) unterrichtet, weil die Schüler, bezogen auf Piagets
Stadientheorie, erst ab diesem Zeitpunkt kognitiv in der Lage sind, abstrakte Gedankengänge
zu verfolgen, wie es bei den Naturwissenschaften erforderlich ist.
Durch neuere Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung des Kindes wird Piagets
Stufenmodell immer mehr in Frage gestellt.
Das liegt zum Einen daran, dass Piagets Untersuchungsergebnisse mittlerweile über 70 Jahre
zurückliegen. In der Zwischenzeit hat sich die Lebensumwelt der Kinder jedoch stark verändert.
So machen viele Kinder schon sehr früh Erfahrungen mit Medien wie dem Fernseher,
dem Computer oder dem Internet. Die zunehmende Technisierung der Umwelt ist vielleicht auch
der Grund, weshalb neueste Untersuchungsergebnisse belegen, dass sich die ersten
Entwicklungsstadien Piagets vor verlagert haben. So beschreibt Gisela Lück in ihrem Buch
"Leichte Experimente für Eltern und Kinder" [7], dass Kinder wahrscheinlich schon im
Alter von vier Jahren konkret-operationale Denkkonstruktionen vollziehen können.
Aber auch die Voraussetzungen, unter denen Piaget seine Untersuchungen an Kindern
durchführten, sind in Kritik geraten.
In einem seiner bekanntesten Versuche schüttete Piaget den Inhalt eines mit zur Hälfte
gefüllten Wasserglases in ein anders geformtes Glas. Die Versuchsperson, ein Kind,
sollte nun sagen, ob sich in diesem Glas nun mehr beziehungsweise weniger Wasser befindet.
Ausgang des Versuchs war, dass das Kind nicht erkannt hat, dass die Menge an Wasser
gleich geblieben ist.
Mittlerweile gibt es aber genug Hinweise dafür, dass das Ergebnis völlig anders
ausgefallen wäre, wenn der Versuch anstatt von Piaget vom Kind selbst ausgeführt worden
wäre.
Aufgrund dieser "missglückten" Versuchsdurchführung wurde die Erkenntnisfähigkeit von
Grundschülern als relativ gering eingestuft.
Die Erkenntnisse Piagets hatten fatale Auswirkungen auf die Gestaltung des
naturwissenschaftlichen Unterrichts in Grundschule. Weil den Kindern in diesem Alter
ein nicht besonders großes Verständnis für naturwissenschaftliche Vorgänge unterstellt
wurde, konnte dem kindlichen Interesse an Naturphänomenen, das nach neueren Erkenntnissen
schon in der Grundschulzeit vorhanden ist, nicht nachgegangen werden.