4.2.2 Erikson
Zu einem anderen Entschluss als Piaget kommt der Psychologe Erik H. Erikson in
seinem Aufsatz "Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit" [8].
Im Gegensatz
zu Piaget bezieht sich Erikson nicht auf die kognitionspsychologische Sichtweise, sondern
steht für eine psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie [6].
Dabei vertritt Erikson die Position, Kinder schon frühzeitig an die Naturwissenschaften
heranzuführen.
Erikson untersuchte die Entwicklung und Verhaltensweisen des Menschen von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter. Dabei bezog er in seine psychoanalytischen Betrachtungen auch die Erforschung der Ich-Identität und deren historisch-gesellschaftliche Prägung mit ein [8].
In seinem Aufsatz über das Wachstum und die Krisen der gesunden Persönlichkeit spricht Erikson von dem epigenetischen Prinzip, dem er die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen unterstellt [8]. Konkret bedeutet dies, dass die Persönlichkeitsentwicklung nach einem genetisch fest verankerten Grundplan verläuft, "dem die einzelnen Teile folgen, bis alle Teile zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind" [Erikson 1966, S. 57].
Nach der Geburt, wenn der Säugling in die Gesellschaft eintritt, beginnt sich seine Persönlichkeit nach inneren Entwicklungsgesetzen zu entfalten. Erikson ist dabei der Meinung, dass die Persönlichkeit eines Menschen in bestimmten, genetisch festgelgten Abschnitten wächst. In jeder dieser Entwicklungsphasen wird der Mensch mit einer Identitätskrise konfrontiert. Ist eine Krise bewältigt worden, erreicht er ein neues Entwicklungsstadium [8].
Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die einzelnen, von Erikson untersuchten, Entwicklungsstadien des Menschen.
Reifes Erwachsenenalter | Integrität/ Lebensekel |
|||||||
Erwachsenenalter | Generativität/ Selbstabsorption |
|||||||
Frühes Erwachsenenalter | Intimität/ Isolierung |
|||||||
Adoleszenz | Identität/ Identitätsdiffusion |
|||||||
Schulalter | Werksinn/ Minderwertigkeit |
|||||||
Spielalter | Initiative/ Schuldgefühl |
|||||||
Kleinkindalter | Autonomie/ Scham |
|||||||
Säuglingsalter | Urvertrauen/ Misstrauen |
(Quelle: Lück 2003, S. 33)
Der Begriff "Krise" wird von Erikson nicht als drohende Katastrophe verstanden, sondern als das Zurechtfinden eines Individuums zwischen zwei Extremen [6].
Krisen entstehen durch den entwicklungsbedingten Fortschritt des Individuums. Das Individuum verfügt im Laufe seiner Entwicklung über immer weitere, ihm unbekannte Teilfunktionen, denen es sich erst ein mal bewusst werden muss [8].
Dies geschieht, indem es die genannten Teilfunktionen genauer kennen lernt und einen eigenen Weg findet, mit ihnen umzugehen [6].
Im Folgenden soll nun die für das Grundschulalter relevante Krise genauer betrachtet werden.
Die Krise im vierten Entwicklungsstadium bezeichnet Erikson als "Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl" und ist gekennzeichnet durch den Tatendrang des Kindes. Das Kind möchte produktiv tätig werden und entwickelt dabei Ehrgeiz und Fleiß. Indem es Dinge produziert beweist es seiner Umwelt, dass es schon ein rudimentärer Erwachsener ist. Kinder in dieser Entwicklungsstufe zeigen großes Interesse an Gegenständen aus der "realen" Welt, suchen sich nützliche Beschäftigungen und begnügen sich nicht mehr mit reiner Spielerei und Phantasien [8].
Dabei üben vor allem "Produkt(e) von Realität, praktischer Anwendung und Logik" einen großen
Reiz auf Kinder aus [Erikson 1966, S.100]. Sie vermitteln ihnen das Gefühl, an der realen
Welt der Erwachsenen teilzunehmen und sich aktiv in sie einzufügen.
Dieser Wunsch geht sogar soweit, dass sich Kinder in diesem Stadium unbefriedigt und
minderwertig fühlen, wenn sie keine Gelegenheit bekommen, sich nützlich zu machen oder
produktiv tätig sein zu können [8].
Das Kind möchte sich also mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, seine Realität
erschließen.
Dabei kommt der Sachunterricht dem Erkundungsdrang der Kinder sehr entgegen, weil er die
Gelegenheit zur aktiven Erschließung der Lebenswirklichkeit beiträgt. Vor allem die
naturwissenschaftliche Komponente des Sachunterrichts nimmt eine besondere Stellung ein.
Sie ermöglicht die Betrachtung sowie eine experimentelle Erprobung von Alltagsphänomenen
und gibt den Schülern damit das Gefühl, an der realen Erwachsenenwelt teilzunehmen.
Nach Eriksons Erkenntnissen sind Kinder vor allem in der Kindergarten- und Grundschulzeit
besonders sensibel und aufgeschlossen für naturwissenschaftlichen Unterricht, der
allerdings, basierend auf der Kognitionsforschung Piagets, frühestens ab Klasse 5 in
den Schulen als eigenständiger Fächerverbund unterrichtet wird.
Erikson zu Folge bietet dieser späte Zeitpunkt einen entscheidenden Nachteil in Hinblick
auf die Entwicklungsstufe der Schüler. Weil bei vielen Schülern schon ab zwölf Jahren die
Pubertät einsetzt, gilt das Interesse der Jugendlichen in dieser Phase mehr der
Identitätsfindung beziehungsweise der Festigung der Ich-Identität und weniger den
schulischen Aktivitäten. Deshalb gestaltet es sich für Lehrer schwieriger, bei
Jugendlichen in dieser Phase ein Interesse an den Naturwissenschaften wecken zu können [8,6].