4.3.1 Experimentieren unter neurobiologischen Gesichtspunkten
Experimentieren im Sachunterricht bietet den Schülern eine lebensnahe und
natürliche Art des Lernens. Dabei kommt besonders das Schülerexperiment dem natürlichen
Bewegungsdrang des Kindes nach und verhindert dadurch die allseits bekannten "Phänomene"
des Stuhlrutschens oder der Zappelei. Diese Verhaltensweisen, die ein Anzeichen für eine
mangelnde Aktivierung des Großhirns sein können, werden oft von Denkstörungen,
Konzentrationsschwierigkeiten, Unruhezuständen oder Tagträumen begleitet und entsprechen
dem typischen Kompensierungsverhalten des Menschen. Beobachtbar ist ein solches Verhalten
vor allem in reizarmen oder reizmonotonen Lernsituationen.
Ein Beispiel für eine solche Situation ist rein verbal informierender Unterricht, wie er im
Frontalunterricht praktiziert wird [3].
Da die Aktivierung des Großhirns von den durch Unterricht erzeugten Sinneseindrücken und Bewegungsreizen abhängt, stellt der Frontalunterricht mit seinen nur sehr reduziert vorhandenen Reizanlässen und dem Verrichten (fast) ausschließlich statischer Arbeiten wie etwa dem Schreiben und Lesen eine für den Lernprozess eher ungünstige Form des Unterrichtens dar.
Gerade das statische Arbeiten belastet den Körper mehr als bewegungsreiches Arbeiten. Neben langfristigen Schädigungen etwa durch eine falsche Haltung beim Sitzen, wirkt sich diese einseitige Belastung des Körpers bei statischer Arbeit schon weit schneller durch Sauerstoffmangel im Gehirn aus, dessen Folge meist Konzentrationsstörungen sind.
Werden die Muskeln im Körper durch dynamische Arbeit beansprucht, wirkt sich der Wechsel von Muskelanspannung und -erschlaffung wie eine erhöhte Pumpwirkung auf den Blutdruck aus, welche wiederum für eine bessere Durchblutung des Körpers sorgt und somit auch mehr Sauerstoff ins Gehirn gelangen lässt [3].
Das Kompensierungsverhalten von Schülern darf deshalb als Selbstaktivierung des Gehirns
verstanden werden.
Zur Vermeidung der Selbstaktivierung, ausgelöst durch reizarme Unterrichtssituationen,
sollte Unterricht dem Schüler Mehrfachreize bieten.
Experimentell orientierter Sachunterricht entspricht diesen Anforderungen in besonderem Maße.
Vor allem das Durchführen von Schülerexperimenten ermöglicht Kindern das Lernen mit
allen Sinnen, weil sie dort selbst aktiv werden. Beim Experimentieren werden alle Sinne
des Schülers angesprochen und statische Arbeit durch Bewegungen und Handlungen ersetzt.
Wie sehr diese Unterrichtsmethode den kindlichen Bedürfnissen entspricht, wird aus dem Schülerverhalten beim Durchführen von Versuchen deutlich. Aus eigenen Erfahrungen ist bekannt, dass Kinder eine hohe intrinsischen Motivation und viel Spaß beim Experimentieren entwickeln und sich zudem äußerst konzentriert und wissbegierig zeigen.
Auch die emotionale Beteiligung am Experimentieren begünstigt den Lernprozess.
Wenn das Lernen Freude bereitet, die Schüler also emotional betroffen sind, verringert
sich die Ausschüttung von Stresshormonen, die in den Nebennieren und dem Gehirn produziert
werden und in Stresssituationen zu Denkblockaden und dem so genannten "Black-Out" führen
können. Angenehme Erlebnisse hingegen schaffen im Köper des Schülers eine positive
Hormonlage und ermöglichen die volle Nutzung der Assoziationsmöglichkeiten für Denken
und Lernen [4].
Ein weiterer Vorteil des Schülerexperiments ist, dass es aufgrund seiner Mehrfachreize, die es dem Schüler bietet, besser in dessen Gehirn verankert werden kann. So spricht der Neurobiologe Vester in seinem Buch "Denken, Lernen, Vergessen" von unterschiedlichen Grundmustern des Denkens, die sich bereits im Säuglingsalter durch äußere Einflüsse bilden und bewirken, dass jeder Mensch einen anderen, individuellen Zugang zu Lerninhalten hat [4].
Vester unterscheidet dabei zwischen dem auditiven, dem haptischen, dem visuellen und dem
intellektuellen Lerntypen.
Während der auditive Lerntyp das Verstehen in der Kommunikation, also durch Hören und
Sprechen sucht, erklärt sich der haptische Lerntyp Sachverhalte durch eigenes Fühlen und
Anfassen. Beim visuellen Lerntyp verhält es sich hingegen so, dass er durch die optische
Betrachtung Sachverhalte erkennt und Verständnis darüber erlangt.
Der vierte Lerntyp durchdringt Sachverhalte abstrakt-verbal. Er lernt beispielsweise anhand von Formeln und verlässt sich dabei überwiegend auf sein Wissen [4].
Der Vorteil des Experiments als Unterrichtsmethode liegt darin, dass es alle Lerntypen
gleichermaßen anspricht.
Der handelnde Umgang der Schüler beim Experimentieren hilft, ein Naturgesetz oder -phänomen
im Gehirn vielfach zu verankern, weil es gleich mehrere Sinneskanäle (zum Beispiel auditiv,
visuell, haptisch) anspricht. Dadurch werden beim Lernprozess mehrere Hirnregionen zum
Schwingen gebracht, was wiederum eine größere Assoziationsmöglichkeit beim Schüler schafft.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Experiment von vielen Schülern verstanden und gedanklich durchdrungen wird, ist damit relativ hoch [4].
Zusammenfassend kann folgende Aussage Vesters genannt werden:
"Je mehr Wahrnehmungsfelder im Gehirn beteiligt sind, desto mehr Assoziationsmöglichkeiten
für das tiefere Verständnis werden vorgefunden, desto größer werden Aufmerksamkeit und
Lernmotivation, und desto eher findet man die gelernte Information wieder, wenn man sie
braucht." [Vester 1978, S. 142 f.]
Die Erkenntnisse Vesters machen die Bedeutung eines experimentell orientierten Sachunterrichts in der Grundschule ersichtlich. Zwar bedeutet diese Unterrichtsmethode einen erhöhten Arbeitaufwand für den Lehrer, jedoch zahlt sie sich aus neurobiologischer Sicht und im Hinblick auf einen erfolgreichen Lernprozesses des Schülers mit Sicherheit aus.