Der Blick ins Kristallgitter

Woher weiß man eigentlich, wie die Bausteine eines Kristalls, also Atome, Ionen und Moleküle im Gitter angeordnet sind? Denn für einen direkten Blick ist die Wellenlänge des sichtbaren Lichts auch bei Verwendung eines Mikroskops um den Faktor 5000 zu groß, so dass eine Abbildung unmöglich ist.
Nutzt man dagegen die wesentlich kürzerwellige Röntgenstrahlung, so ist der Blick ins Gitter möglich. Diese Strahlung wird nämlich durch Atome und Ionen gebeugt. Das entspricht durchaus der Beugung von sichtbarem Licht an einem geritzten Gitter.

Monochromatische Röntgenstrahlung mit der Wellenlänge l wird auf eine Fläche eines Kristalls geschickt. Der Kristall wird gedreht, bis Beugung eintritt. Dabei verstärken sich die Amplituden der Strahlung (positive Interferenz), es gibt auf einem Bildschirm ein charakteristisches Beugungsbild. Der zugehörige Winkel q wird gemessen. Zwischen ihm und dem Abstand der Ebenen d gilt die Braggsche Beziehung:

     n l = 2 d · sin q

(Das Symbol n ist die Beugungsordnung. Sie hat mit der Zahl der Beugungsmaxima zu tun.)
Kennt man also die Wellenlänge der Strahlung sowie den Winkel, bei dem Beugung auftritt, so kann man die Geometrie der Elementarzelle berechnen.
Man geht wie folgt vor: Man dreht den Kristall um vielerlei Achsen. Immer, wenn bei der Drehung des Kristalls unter der Röntgenstrahlung auf dem Empfängerteil des Geräts Beugungslicht aufleuchtet, ist die Braggsche Beziehung erfüllt. Der zugehörige Winkel wird notiert, die Intensität des Beugungslichts gemessen, d wird berechnet und der Wert einer Richtung (Vektor) im Kristall zugeordnet.

Sind in einem Gitter zwei verschiedene Atomsorten vorhanden, so kann man deren Aufenthalts-Punkte zwei verschiedenen Gruppen von Ebenen zuordnen. Für jede Ebenen-Gruppe gilt bei gleichem Winkel q die Braggsche Beziehung. Wegen der Versetzung der beiden Gitterebenen-Gruppen sind die an den Atomen A und X gebeugten Strahlen nicht mehr in Phase; es gibt teilweise Verstärkung und teilweise Auslöschung (negative Interferenz). Das Ausmaß der Intensitätsveränderung hängt von der relativen Lage der Atom-Sorten ab. Deshalb kann man aus den Intensitäten der gebeugten Strahlung die genauen Positionen der Atome in einer Elementarzelle bestimmen.
Mit einem einzigen Kristall kann eine Vielzahl von Beugungsmustern erhalten werden, denn es lassen sich viele Ebenen durch ein Gitter legen, auch solche, die schräg zur Elementarzelle liegen. Dieses Verfahren geht auch mit Kristallpulver.
Bei komplexer zusammengesetzten Kristallen (wie bei denen von Proteinen) erhält man durch Überlagerungen der nicht in Phase schwingenden Strahlungsanteile entsprechend komplizierte Interferenzmuster. Diese lassen sich aber mathematisch in ihre Grundschwingungen zerlegen. Aus denen kann man Positionen und Abstände einzelner Atome berechnen. Hierzu bedarf es aber eines ausgefeilten mathematischen Apparats (Fourier-Analyse) und einer entsprechend aufwendigen, teuren Computer-Software. Diese findet übrigens auch bei der Computer- sowie bei der Kernspin-Tomographie Anwendung.

Das Verfahren der Röntgenstrukturanalyse geht genau genommen auf Max von Laue zurück (-> Briefmarke). Er bekam dafür den Nobelpreis von 1914 für Physik. 1915 folgten die beiden Braggs als Physiklaureaten.

Anders als die Braggs, die die Reflexionen an einer Gitterebene maßen und auswerteten, durchstrahlte von Laue den Kristall. Er erhielt für einen Natriumchlorid-Kristall ein prächtiges, symmetrisches Bild wie auf der Briefmarke gezeigt.

Damit schlug von Laue gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Da damals weder die Natur der Röntgenstrahlen noch die Struktur der Kristalle genau bekannt waren, löste er das Problem mit einem Experiment. Der Effekt konnte nur durch die Annahme des Wellencharakters der Röntgenstrahlen sowie durch regelmäßige Anordnung von Bausteinen im Kristallgitter erklärt werden.

Noch ein Hinweis: Genau genommen wird bei der Röntgenstrukturanalyse für jeden Punkt des Kristalls nicht die Lage der Atome bestimmt, sondern die Dichte der Elektronen.


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Letzte Überarbeitung: 30. März 2010, Dagmar Wiechoczek