Prof. Blumes Tipp des Monats August 2014 (Tipp-Nr. 206)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Wenn Silberchlorid ausflockt

Wer analytisch gearbeitet hat, kennt das Phänomen: Wenn man die Konzentration von Silbersalzen nach Gay-Lussac titrimetrisch (maß-analytisch) bestimmen will, erkennt man den Äquivalenzpunkt daran, dass die zunächst trübe Lösung schlagartig ausflockt („Klarpunkt“). Vor dem Versuch sollte man warnen: Er geht nicht besonders gut. Dennoch stellen viele die Frage, wie es zum Klarpunkt kommt.

Hier ist zur Erinnerung eine etwas stark vereinfachte Versuchsanleitung:

Versuch: Maßanalytische Bestimmung der Konzentration von Silber-Ionen
Silbersalze sind vor allem in Lösung stark gegen Licht empfindlich. Deshalb in einem etwas abgedunkelten Raum arbeiten, vor allem direktes grelles Licht meiden.
Vorlage in einem Erlenmeyer-Kolben: 25 ml schwach salpetersaure (pH 2-4) Lösung von Silbernitrat (c = 0,05 mol/l) (Xi). Die stellt man her, indem man einige Tropfen einer verdünnten Salpetersäurelösung (C = 2 mol/l) zur wässrigen AgNO3-Lösung gibt.
Titriermittel in einer 50 ml-Bürette: Lösung von Natriumchlorid (c = 0,05 mol/l).
Bei der klassischen Versuchsanleitung wird die Chloridlösung in kleinen Portionen zugegeben. Jedes Mal wird gut vermischt, und man lässt den gebildeten Niederschlag sich absetzen. Wenn die Lösung über dem Niederschlag klar bleibt, ist der Äquivalenzpunkt erreicht. [1]
Wir gehen etwas grober vor:
Unter leichtem Umschwenken des Erlenmeyerkolbens geben wir portionsweise Natriumchloridlösung in die Silbersalzlösung. Bis kurz vor dem Äquivalenzpunkt kann man in größeren Schritten (z. B. 5 ml) Titrierlösung zulaufen lassen. Zuletzt aber erfolgt die Zugabe nur tropfenweise. Etwas warten. Das Absetzen dauert länger.

Zunächst bemerkt man nur eine helle Trübung, wie sie für kolloidale Lösung typisch ist. Es bilden sich auch schon einige größere Brocken, die sich aber beim Rühren oftmals wieder auflösen. Einen deutlichen Umschlagspunkt gibt es nicht, aber man sieht im Bereich zwischen 20 und 25 ml, also bei Annäherung an den Äquivalenzpunkt, dass der Niederschlag zunimmt und gröber wird.


Wie ist das Ausflocken zu erklären?
Die Deutung dieses Phänomens ist ein schönes Beispiel dafür, wie man makroskopische Effekte als Auswirkungen von Interaktionen zwischen Teilchen auf atomarer Ebene herleiten kann.

Zunächst ist hier die Reaktionsgleichung für die Entstehung von Silberchlorid:

Dieses Silberchlorid bildet zunächst eine kolloidale Lösung. Die ist stabil, weil sich an diese feinstverteilten Silberchlorid-Aggregate, die schon Ionengitterstruktur aufweisen, überschüssige Silber-Ionen anlagern.

Eine Frage wird an dieser Stelle immer gestellt: Warum bleiben die Silber-Ionen nicht bei „ihren“ Nitrat-Ionen? Die Anlagerung an die Kolloid-Oberflächen erfolgt aufgrund der stärkeren Tendenz der (hydratisierten) Silber-Ionen, sich an Chlorid-Ionen zu binden - auch wenn diese in den Außenschichten der AgCl-Gitter stecken.

Bei den folgenden schematischen Darstellungen wird auf die Berücksichtigung der Gegen-Ionen der Silber-Ionen (NO3-) sowie der Wassermoleküle verzichtet.

Bild 1: Anlagerung von hydratisierten Silber-Ionen (blau gezeichnet) an Silberchlorid
(Schematische Darstellung)


Dadurch sind alle Aggregate positiv aufgeladen und stoßen sich ab - sie bleiben als kolloidale Teilchen in Lösung und sorgen für deren milchige Trübung.

Bild 2: Kolloidale Lösung von Silberchlorid nach Versuch 1
(Schematische Darstellung)


Mit Erreichen des Äquivalenzpunkts werden auch diese Silber-Ionen mit Chlorid-Ionen „verheiratet“. Nun sind alle AgCl-Kolloide ungeladen; sie ziehen sich aufgrund der vielen gegensätzlichen elektrischen Ladungen in den AgCl-Ionengittern an und bilden die gut erkennbaren großen, käsigen Flocken, die zu Boden sinken.


Das müsste doch auch umgekehrt gehen!

Die Deutung des Vorgangs ist analog zu der des Versuchs 1:

Auch hier bildet sich zunächst eine trübe Lösung von Silberchlorid. In diesem Fall jedoch ist die kolloidale Lösung deswegen stabil, weil sich an diese feinstverteilten Silberchlorid-Aggregate überschüssige Chlorid-Ionen anlagern. Die bevorzugen die in den Außenbereichen des AgCl-Gitters fixierten Silber-Ionen.

Bei den folgenden schematischen Darstellungen wird auf die Berücksichtigung der Gegen-Ionen der Chlorid-Ionen (Na+) sowie der Wassermoleküle verzichtet.

Bild 3: Anlagerung von hydratisierten Chlorid-Ionen (blau gezeichnet) an Silberchlorid
(Schematische Darstellung)


Dadurch sind alle Aggregate negativ aufgeladen und stoßen sich ab - sie bleiben als Kolloide in Lösung.

Bild 4: Kolloidale Lösung von Silberchlorid nach Versuch 2
(Schematische Darstellung)


Mit Erreichen des Äquivalenzpunkts werden auch diese Chlorid-Ionen mit Silber-Ionen „verheiratet“. Nun sind wieder alle AgCl-Aggregate ungeladen; sie ziehen sich an und bilden große Flocken, die zu Boden sinken.

Es wird ab und zu erwähnt, dass der Versuch mit Kaliumbromid statt mit Natriumchlorid besser geht. Sie können das ja mal ausprobieren.


Literatur:
[1] G. Jander, F. Jahr, H. Knoll: Maßanalyse. Sammlung Göschen. Walter de Gruyter & Co. Berlin 1966.

Rüdiger Blume


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Letzte Überarbeitung: 31. Juli 2014, Dagmar Wiechoczek