Prof. Blumes Tipp des Monats Oktober 2014 (Tipp-Nr. 208)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Zeit für die Herbstzeitlose

Bild 1: Herbstzeitlose
(Foto: Blume)


Jetzt sieht man sie wieder: Die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) (lat. autumnus, Herbst) blüht in Gärten und auf Wiesen. Letzteres sieht der Bauer gar nicht gern: Denn wenn seine Weidetiere davon naschen, können die Tiere eingehen. Ca. 10 g pro Kilogramm Körpergewicht reichen schon. Das gilt auch für entsprechend geringere Mengen an Heu, das bei der letzten Mahd des Jahres eingefahren wird und das als Winterfutter dient. Denn die prächtige Krokusverwandte ist stark giftig.

Mit ihrer Giftigkeit hängt auch ihr wissenschaftlicher Gattungsname Colchicum zusammen. Der leitet sich von Kolchis, einem sagenhaften Königreich am Schwarzen Meer ab. Dort lebte, wie der griechischen Argonauten-Sage vom (auch für die Gold-Gewinnung interessanten) Goldenen Vlies zu entnehmen ist, die Königstochter Medea, die als Ränkeschmiedin, Zauberin und Giftmörderin berüchtigt war.

Beim Betrachten der schönen Blüten wundern sich viele, dass die Herbstzeitlose scheinbar keine Blätter hat. Im Herbst zeigt sie tatsächlich nur ihre Blüten. Die befruchtete Samenanlage wandert in den Boden in die große Zwiebel und entwickelt sich über den Winter hinweg, wird dort quasi ausgebrütet. Im Frühjahr treibt die Pflanze zunächst tulpenartige, große grüne Blätter aus und dann die Samenkapsel. Diese Form der Entwicklung hat zur Folge, dass viele die Herbstzeitlose im Frühling für eine andere Pflanze halten als im Herbst.

Die sich im Frühjahr bildenden grünen Blätter können leicht mit denen des Bärlauchs verwechselt werden. Im Gegensatz dazu sind die Blätter der Herbstzeitlosen aber geruchlos.

Das hauptsächliche Gift der Herbstzeitlosen heißt Colchicin. Es handelt sich um ein Alkaloid, ist also stickstoffhaltig. Grundkörper ist ein ungewöhnlicher Ring: Cycloheptan. (Den kennen wir schon vom Atropin her, dem Alkaloid der Tollkirsche.) An diesen Ring ist ein Tropolon ankondensiert, ein Derivat von Cycloheptatrien. Man spricht deshalb von einem Tropolon-Alkaloid.


Hinsichtlich der Bezeichnung „Alkaloid“ sei angemerkt, dass im Colchicin das Stickstoffatom nicht basisch ist, da es in einem Säureamid gebunden vorliegt.


Die physiologische Wirkung von Colchicin ist vielfältig
Die mittlere tödlich (letale) Dosis (LD50-Wert) für Weidetiere beträgt 1 mg/kg Körpergewicht. Für Menschen liegt die gesamte LD50 bei 30 mg. Dieser Wert hängt aber vom gesundheitlichen Gesamtzustand ab.

Wenn man sich die Molekülstruktur anschaut, erkennt man, dass Colchicin eine unpolare Substanz ist. Deshalb kann man direkt nach dem Verzehr der giftigen Pflanzenteile versuchen, durch hohe Dosen von Aktivkohle die unpolare Substanz zu binden.

Als unpolare Substanz kann Colchicin leicht Barrieren von Organen und Zellen durchdringen.

Im Zellinneren bindet sich Colchicin vor allem an die so genannten Mikrotubuli. Darunter versteht man röhrenförmige Proteinstrukturen, die zur Stabilisierung der Zellen und zu innerzellulären Transportvorgängen dienen. Es kommt zu einer Behinderung aller zellulären Prozesse und Funktionen. Ein Beispiel ist der Transport von synaptischen Bläschen in den Neuronen, der durch Colchicin behindert wird. Auch Ausscheidungen werden unterbunden. Synthetisierte Botenstoffe werden nicht mehr ausgeschleust. Der Immunapparat wird gestört. Kollagen und Keratin bleiben in der Zelle, Bindegewebe und Haarfollikel werden nicht mehr versorgt. Auch wird die Funktion der Nieren stark beeinträchtigt.

Besonders erschwerend ist, dass während der Zellteilung (Mitose, Meiose) die Tätigkeit des Spindelapparats blockiert wird, weil die Spindeltubuli angegriffen werden. Das hat zur Folge, dass Colchicin die Verteilung der Chromosomen auf die neuen Zellen verhindert. Es wirkt als Mitosegift.

Kurz gesagt: Die Vergiftung mit Herbstzeitlosenblättern oder mit ihren Früchten hat ein allgemeines Körperversagen zur Folge. Da vor allem junge Menschen wegen ihres Wachstums betroffen sind, sollte man gerade diese vor dem Verzehr der Pflanzenteile warnen.

Dass nicht mehr Weidetiere betroffen sind, liegt daran, dass sie die Herbstzeitlosen meiden.


Colchicin ist aber für Pflanzenzüchter unerlässlich
Der Züchter legt Pflanzensamen in Colchicinlösungen ein. Beim Keimen passiert Folgendes: Da Colchicin die Verteilung der Chromosomen durch den Spindelapparat auf die neuen Zellen blockiert, entstehen Pflanzen mit doppelter oder noch höherer Chromosomenzahl. Man spricht von Polyploidie. Je mehr Chromosomen ein und derselben Art in den Zellen vorhanden sind, desto größer ist die Syntheseleistung der Zellen. Auf diese Weise lassen sich riesenwüchsige Pflanzen züchten. Allerdings erfordert diese Form der Züchtung viel Know-how und Fingerspitzengefühl.

Rüdiger Blume


Literatur
[1] E. Teuscher, U. Lindequist: Biogene Gifte; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 3. Auflage, Stuttgart 2010.
[2] H. Beyer: Lehrbuch der Organischen Chemie, S. Hirzel Verlag, Leipzig (neueste Auflage).
[3] W. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, de Gruyter, Berlin (neueste Auflage).

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Letzte Überarbeitung: 24. September 2014, Dagmar Wiechoczek