Die Vier-Säfte-Lehre

Der griechische Arzt Hippokrates dachte sich hinsichtlich der Gesundheit der Menschen folgende Theorie aus:

Die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle steuern die Erscheinungen des Lebens

Lebensäußerungen haben die Mischung der Vier Säfte zur Voraussetzung. Zur Erkrankung kommt es, wenn diese Vier Säfte falsch gemischt werden und/oder wenn sie verdorben sind. Diese Theorie ist deshalb auch als Lehre von den gesundheitserhaltenden und krankmachenden Körpersäften bekannt.

Die Vier-Säfte-Lehre hat ihr naturwissenschaftliches Pendant in der Vier-Elemente-Lehre. Wie letztere hat auch die Vier-Säfte-Lehre bis weit ins 19. Jahrhundert hinein üble Folgen gehabt. Denn die medizinische Wissenschaft stagnierte auf hippokratischen Ansätzen, weil sie entgegen dem äußeren Anschein und wider besseren Wissens auf Althergebrachtem beharrte. Jedoch hat bereits Paracelsus diese Lehre bekämpft und frühzeitig auf die Rolle der Organe hingewiesen. Erst Virchow bereitete dem Treiben ein Ende. Er führte in seiner Zellpathologie die meisten Krankheiten auf Disfunktionen in den Zellen zurück.

Folge der Vier-Säfte-Lehre waren Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten, über deren Schlichtheit man heutzutage staunt. Grundlage aller Maßnahmen (man spricht von Humoralpathologie) war die Idee, krankmachende Säfte aus dem Körper zu entfernen. So ließ man zur Ader, bis die Leute unter Blutmangel litten. Dazu hatte jeder Arzt seine Blutschüssel dabei - oder frisch gefangene Blutegel aus dem Teich von nebenan. Man verabreichte Abführmittel bis zum Verhungern und Harntreibendes bis zur Austrocknung. Hinzu kamen hustenlösende Mittel für die schwarze Galle. Brechmittel sorgten für die Entfernung der gelben Galle. Man schröpfte, bis das Blut aus der Haut trat.

Endgültige Gesundung erreichte man, wenn man durch geeignete Zufuhr von Arzneien, spezieller Ernährung oder durch Reichen von Getränken (vor allem Rotwein, dem man stärkende Kräfte und wohl wegen der roten Farbe bluterneuernde Potenz nachsagte) die Flüssigkeiten austauschte. Dazu versuchte man es auch mit Bluttransfusionen - mit schrecklichen Folgen. So mancher Hund oder manches arme Schwein brachte auf diese Weise mit einer unfreiwilligen Blutspende sein Herrchen ins Grab. Das Trinken von flüssigem Quecksilber sollte Magen-Darm-Beschwerden lindern. Das hatte den Vorteil, dass man nach dem Ableben der Patienten (lat. patiens; geduldend, leidend) das Quecksilber zurückgewinnen konnte. Man sieht, das es die Bestrebungen zum Recycling schon frühzeitig gegeben hat.

Die Humoralpathologie hat auch heute noch ihre Anhänger bzw. Zulauf von Esoterik-Fans. Immerhin sind Aderlass, das Setzen von Blutegeln und Schröpfen wieder „in“. Man denke auch an die vielen Gesundheitstees, die auf dem Markt sind.

Es gab aber Ansätze zu etwas Vernünftigem, nämlich die verschiedenen Formen von Diät. Deshalb ist die Vier-Säfte-Lehre nicht ganz ohne Wirkung auf die moderne, wissenschaftliche Schulmedizin geblieben. Blutegel (lat. hirudo) haben uns das Hirudin beschert. Außerdem wäre man ohne die fehlgeschlagenen Versuche zur Blutzufuhr nicht auf die Blutgruppen gestoßen.


Literatur:
K. A. Schenzinger: Magie der lebenden Zelle. Wilhelm Andermann Verlag, München-Wien 1957. (Lesenswertes Buch über die Geschichte der Biochemie.)


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Letzte Überarbeitung: 25. November 2013, Dagmar Wiechoczek