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Tipp des Monats Dezember 2017 (Tipp-Nr. 246)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Gespür für Schnee – in den Bergen entscheidend

Uwe Lüttgens

In diesem Winter musste bereits im September das erste Lawinenopfer beklagt werden: Im Berchtesgadener Land löste sich nachmittags am 21.9.2017 über einem Steig im Bereich der Laafeldwand, auf dem eine vierköpfige Wandergruppe unterwegs war, eine Schneelawine, die den letzten Wanderer erfasste und mit sich in die Tiefe riss. Die Tage zuvor hatte es geregnet; nun lockerte die Bewölkung auf und zeitweise schien die Sonne. Für diesen Tag hatte der Lawinenwarndienst keine Lawinen-Gefahrenstufe festgestellt.

Im Unfallbericht der Lawinenwarnzentrale des Bayerischen Landesamt für Umwelt werden zwei Faktoren genannt, die die Lawine auslösten: „Zum einen lagerte sich der Neuschnee auf einem noch warmen Untergrund ab und hatte kaum Bindung zu diesem, zum anderen kam durch den Temperaturanstieg und durch die zunehmende Sonneneinstrahlung zusätzlich Wärme in die Schneedecke. Dadurch wurde diese feucht und schwer – die Hangabwärtsbewegung nahm zu.“ [1]

Immer wieder kommt es zu solch tragischen Unfällen – besonders dann, wenn die Lawinengefahr groß ist. Doch welche Faktoren bestimmen darüber, ob eine Schneedecke sicher trägt oder doch abrutscht und dann leicht zur tödlichen Gefahr werden kann.

Werner Munter, der „Papst“ der Lawinenkunde, rät zu einem professionellen Risikomanagement, bevor man ein Abenteuer in den Bergen wagt. In seinem Buch zur Lawinenkunde [2] weist er darauf hin, dass Neuschnee, selbst wenn er sich gesetzt hat, bei ausreichender Hangneigung Lawinen bilden kann. Wichtige Voraussetzung: Die Verbindung mit dem Altschnee oder, wie im geschilderten Fall, mit dem Untergrund des Hanges ist nur unzureichend oder überhaupt nicht vorhanden.


Die Gleitfläche einer Lawine
Im geschilderten Unfall wurde eine sogenannte Bodenlawine ausgelöst. Die Gleitfläche hatte also Kontakt zum Untergrund. Sicherlich spielten der vorher gefallene Regen und die Sonneneinstrahlung eine Rolle, so dass sich eine Nassschneelawine bildete, die auf der Grasnarbe den Hang hinabglitt. Kommt es hingegen zum Abrutschen innerhalb der gesamten Schneedecke, spricht man von einer Oberlawine, die den Hang hinabgleitet. Sie ist der häufigere Fall, der eintritt, wenn beispielsweise Neuschnee auf älteren, bereits gesetzten Schnee fällt oder eine bereits gefrorene Zwischenschicht, z.B. aus Reif oder Harsch, erneut eingeschneit wird. Dies sind ideale Bedingungen für Schneebrettlawinen.

Bild 1: Ist dieser Hang gefährlich?
(Foto: Lüttgens)

Entscheidend für das Entstehen einer Lawine ist die Bindung zwischen den Schichten. Physiker sprechen von Haftreibung: Liegt der Schnee ruhig am Hang, dann wirkt zwar eine Kraft nach unten auf ihn, jedoch wirkt dieser Zugkraft die Haftkraft entgegen. Wird die Zugkraft größer, dann steigt auch die Haftkraft an. Die Haftkraft kann jedoch nicht beliebig anwachsen! Ist sie maximal, fängt die Schneeschicht an zu gleiten.

Für Lawinen spielen dabei wohl zwei Faktoren eine Rolle, die für die Haftung zwischen zwei Schichten verantwortlich sind: Zum einen sind es die Oberflächen der Schichten, die unterschiedlich rau sind – sie verhaken sich deshalb miteinander. Zum andern können sich die Schneeschichten verformen und somit zusätzlich aneinander anpassen, was zu größeren Kontaktflächen führt.


Für Spezialisten: Auf der Ebene der kleinsten Teilchen kommt es dabei zur elektrostatischen Anziehung zwischen einzelnen gewinkelt gebauten Wassermolekülen, die so zu kleinen Dipolen werden. Die sogenannten Dipol-Dipol-Kräften bewirken die Adhäsionskräfte, die makroskopisch zur Haftkraft führt.


Vom Wassermolekül zur sechszähligen Schneeflocke
Schneekristalle wandeln sich ständig um – angefangen bei ihrer Entstehung in den atmosphärischen Wolken bis zur Umwandlung in abfließendes Schmelzwasser. Die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur bestimmen, ob sich Hanteln, Nadeln, Igel, Sterne oder Plättchen bilden.

Skizze 1: Einige Formen von Schneekristallen
(Zeichnung: Lüttgens)

Bei tiefen Temperaturen besteht der Schnee eher aus einzelnen Kristallen und kleineren Flocken – die fachmännisch als Pulverschnee bezeichnet werden. Einmal am Boden angelangt, wachsen einzelne Kristalle dort zusammen, wo sie sich gegenseitig berühren und miteinander verfilzt sind. Sie bilden sozusagen einen „Schaum aus Eis“ [4].

Bild 4: Schneeflocke
(Foto: Blume)


Ein Zweiklassensystem der Schneearten – dendritisch und metamorph
Grob lassen sich zwei Klassen von Schnee unterschieden:

  • Dendritischer Schnee: Das Wort leitet sich ab vom griechischen dendron, was so viel heißt wie verästelt oder verzweigt. Angespielt wird auf die Form der einzelnen Schneeflocken, die genau sechs Verästelungen aufweisen, Diese typische sechszählige – man spricht auch von hexagonaler – Symmetrie der Kristalle erkennen wir, wenn sich Reif auf einem Gegenstand niederschlägt. Die Kristalle sind dünn und mit sechs mehr oder weniger zarten Ästchen gefiedert. Auch im Neuschnee ist diese Kristallform erkennbar. Mit zunehmender Verfilzung, die mit die einzelnen Kristalle abbauenden Prozessen einhergehen, verändert sich der Schnee.

    Bild 5: Schneesterne – eindeutig dendritischer Schnee
    (Foto: Blume)

  • Metamorpher Schnee: Ist der Abbauprozess beendet, haben wir es mit Altschnee zu tun, dessen Kristalle eher kleinen Kugeln und Körnern entsprechen. Diese wiederum können sich in aufbauenden Prozessen in hohle, kantige Kristallformen umwandeln, an deren Endpunkt die sogenannten Becherkristalle stehen.

    Bild 6: Altschnee ist metamorpher Schnee
    (Foto: Lüttgens)

Fällt nun Regen auf eine Schneeschicht, kann das eingedrungene Wasser je nach Regenmenge die Schneeschicht stabilisieren, indem sogenannte Kapillarkräfte zwischen den Eiskristallen wirken. Wird das Wasser jedoch gestaut, dann kann die Schneedecke gefährlich instabil werden. Ist es entsprechend warm und hat es geregnet, kann dann spontan eine Nassschneelawine ausgelöst werden [6].

Skizze 2: Bildung einer Nassschneelawine
(Zeichnung: Lüttgens nach [6])

Einfach gesagt: Die Eigenschaften des Schnees, ob er also plastisch, elastisch oder spröde ist, werden durch ständige Umwandlungsprozesse bestimmt. Und das, weil sich die Wassermoleküle ständig bei wechselndem Druck und sich ändernder Temperatur so anordnen, dass jeweils der energetisch günstigste Zustand vorliegt. Durch aufwendige Experimente konnte herausgefunden werden, dass sich im Laufe eines Tages bis zu 60 Prozent des Schnees umverteilen können – angetrieben durch sich ständig ändernde Temperaturen. [2,4,6,7]

Bei den abbauenden Prozessen verringern die Schneekristalle ihre Oberfläche, indem Wasser vorrangig an den Verästelungen sublimiert und an anderen, meist kälteren Stellen resublimiert. Einfach ausgedrückt: Die gefiederte Flocke wird zum eher bauchigen Klumpen – und das geschieht relativ rasch. Die Dichte des Schnees nimmt entsprechend zu: Trockener und lockerer Neuschnee wiegt ca. 30 – 50 kg/m3, der daraus gebildete Altschnee, so er denn trocken ist, wiegt bereits 200 – 400 kg/m3. Zum Vergleich: Eis wiegt 800 – 900 kg/m3, je nach Luftanteil [2]. Reines Eis, also ohne Lufteinschlüsse, hat eine Dichte von 916,8 kg/m³ bei 0 °C [8]. Das bedeutet: Der Schnee setzt sich. Und das umso schneller, je wärmer es ist.

Skizze 3: Abbau von Schneekristallen – vereinfacht dargestellt
(Zeichnung: Lüttgens nach [2])

Aber ist der gesetzte Altschnee nun stabil? Leider ist dies schwierig zu sagen. Nehmen wir an, dass der Untergrund wärmer ist: Durch das Temperaturgefälle zur wachsenden Schneedecke laufen nun im Innern aufbauende Prozesse ab: Aus den bodennahen Körnern des Altschnees verdunstet Wasser, so dass sich Hohlräume bilden. Weiter oben entstehen beim erneuten Gefrieren eckige Eisgebilde mit Kanten und gestuften Flächen, später hohle Formen, die sogenannten Becherkristalle, die bis zu 5 mm lang werden können. Der aufgrund der Temperaturdifferenz gebildete Schnee heißt nun Schwimmschnee oder Tiefenreif. Und der ist für Wintersportler gefährlich, weil die Kristalle kaum miteinander verbunden sind, so dass der Schnee keine ausreichende Festigkeit hat: die perfekte Gleitschicht für eine Lawine. Schneit es weiter, dann wächst die Schneedecke über diesem Zwischen- oder Bodenreif, die Zugkraft nimmt also ständig zu, bis die Haftkraft nicht mehr ausreicht und … eine Lawine abgeht.

Skizze 4: Aufbauender Prozess – vereinfacht dargestellt
(Zeichnung: Lüttgens nach [2])


Risikomanagement im Schnee
Zurück zum Risikomanagement: Dazu sagt Werner Munter: „Im Prinzip kann jede Kornform – ohne Ausnahme – Lawinen bilden, aber sie tut es nicht immer und überall! […] Ausschlaggebend ist […] die Verbindung dieser Schicht mit der darüber liegenden Schneedecke und wie fest oder wie schwach diese Verbindung ist …“

Dabei, so Munter, muss man „die Bildung und Umwandlung der Schneekristalle nicht bis in den Molekularbereich hinein kennen, um in kritischen Situationen richtig zu entscheiden!“ [2]


Zu guter Letzt: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
„Es friert, außerordentliche 18 Grad Celsius, und es schneit. In der Sprache, die nicht mehr meine ist, heißt Schnee qanik, er schichtet sich zu Stapeln, fällt in großen, fast schwerelosen Kristallen und bedeckt die Erde mit einer Schicht aus pulverisiertem, weißen Frost.“ Spätestens seit dem Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ von Peter HOEG [9], aus dem ich den ersten Satz zitiert habe, wissen wir, dass die grönländischen Inuit zahlreiche Ausdrücke für die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Wasser im festen Aggregatzustand kennen – also von Eis und Schnee.

So unterscheidet die Sprache der Inuit, wohl aufgrund der herausragenden Bedeutung von Schnee und Eis für dieses Volk, dass sich in einer gewaltigen winterlichen Naturlandschaft behaupten musste, beispielsweise zwischen dem feinkörnigen Pulverschnee – qanik, dem leichtem Schnee – pirhuk, dem Schnee, der vom Wind zu härteren Barrikaden verdichtet wurde – apuhiniq, den Schneefahnen – agiuppiniq oder auch dem drei Jahre altem Schnee – névé.

Ob Fräulein Smillas feines Gespür für Schnee in den märkischen Ebenen um Berlin, in denen ich mit meiner Familie wohne, eine nützliche Fähigkeit ist, darf durchaus bezweifelt werden. Hier ist wohl eher die Frage, ob alle drei Jahre überhaupt Schnee fällt, auch, damit Kinder noch wissen, wie sich Neuschnee überhaupt anfühlt. Meist hat man es in Berlin leider meist mit wenig ansehnlichem, grauem Schneematsch zu tun.

Wer allerdings in alpinen Regionen unterwegs ist, sei es beim Schneeschuh- oder Skiwandern, bei alpinen Abfahrten außerhalb gewohnter Pisten oder beim Hochtourengehen, bei dem verharschte Firnfelder und Gletscherpassagen gequert werden müssen, der sollte die verschiedenen Qualitäten von Schnee halbwegs sicher einschätzen können, wenn er diese Abenteuer unbeschadet überstehen will.


Quellen:
[1] Lawinenwarnzentrale im Bayer. Landesamt für Umwelt: Unfallbericht Datum: 21.09.2017 Ort: Bereich Laafeldwand 1650m / Wanderweg Berchtesgadener Alpen, u_2017_09_21.pdf, abgerufen von http://www.lawinenwarndienst-bayern.de/ereignisse/lawinenunfaelle/ am 23.10.2017)
[2] Werner Munter; 3x3 Lawinen, Risikomanagement im Wintersport; 4. Auflage, Verlag Pohl & Schellhammer, Garmisch-Partenkirchen 2009
[3] Infos zur DAV SnowCard unter https://www.alpenverein.de/bergsport/sicherheit/winter/dav-snowcard_aid_10619.html (abgerufen am 23.10.2017)
[4] Material Schnee, https://www.slf.ch/de/schnee/material-schnee.html (abgerufen am 23.10.2017)
[5] Snowflake Bentley http://www.snowflakebentley.com (abgerufen am 23.10.2017)
[6] Entstehung von Nassschneelawinen, https://www.slf.ch/de/lawinen/lawinenkunde-und-praevention/lawinenarten.html (abgerufen am 23.10.2017)
[7] Thorsten Bartels-Rausch, Kryosphäre, Noch kein Gespür für Schnee, http://www.spektrum.de/news/noch-kein-gespuer-fuer-schnee/1184694 (abgerufen am 23.10.2017)
[8] A.F.Holleman, E.Wiberg, N.Wiberg, Walter de Gruyter, Berlin 2007, S. 538
[9] Fräulein Smillas Gespür für Schnee, Rowohlt Taschenbuch Verlag; 8. Taschenbuchauflage, 1. Oktober 2004


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Letzte Überarbeitung: 19. November 2017, Fritz Meiners