Bild 1: Spiegelung im Wasser: Tübingens Skyline
(Foto: Blume)


Eine Zusammenfassung: Wasser ist nicht nur H2O

Wer kennt schon Wasser? Wissen Sie, ob ein durchschnittlicher Schneestern fünf oder sechs Zacken hat? Und dass Sie selbst zu 70 % aus Wasser bestehen, dass Sie also strukturiertes Wasser sind, das im Moment fehlender Energiezufuhr anfängt zu zerfließen?? Ihr harter Augapfel ist durch Makromoleküle strukturiertes 99prozentiges Wasser. Jede Trübung stört deutlich. Schon deshalb sollten Sie daran interessiert sein, Ihr Trinkwasser sauber zu halten.

Aber im Ernst: Wer hat nicht vom Wasser des Lebens gehört oder kennt den sagenhaften Jungbrunnen aus den Gemälden alter Meister und träumt davon? Wer dieses Wasser trinkt oder darin badet, soll uralt werden können.

Bild 2: Jungbrunnen als Motiv auf einem Geldschein von Bielefeld - auf Seide gedruckt


Wer aber heute zuviel Brunnenwasser trinkt und dazu noch ein Säugling ist, erlebt sein blaues Wunder: Die Cyanose überkommt ihn vom vielen Nitrat. Das ist hier in Ostwestfalen-Lippe unter besonderer Berücksichtigung der unfruchtbaren und deshalb extrem überdüngten Sennefelder gar nicht selten. Nach einer Verlautbarung der Bielefelder Verwaltung - so geht die Sage - ist Grundwasser aus dieser Region "für den menschlichen Verzehr unbedenklich, für die Säuglingsernährung jedoch nicht geeignet".

Wasser ist für den chemisch orientierten Kenner ein stoffliches Wunder. Wasser hat tatsächlich molekulare Eigenschaften, die das Leben, wie wir es kennen, auf unserer Erde überhaupt erst ermöglichen.

"Wasser ist nass und gewinkelt" lernt schon der staunende Grundschüler vom eifrigen Referendar, der damit meint, dass Wassermoleküle elektrische Dipole sind, die alles benetzen und lösen, was unser Leben stofflich bedingt: Nicht nur Haarrisse in Felsen und Hauswand werden von Wasser unerbittlich durchdrungen. Auch mineralische Salze, Kohlenhydrate, Aminosäuren, viele Vitamine und - leider - auch alle möglichen Schadstoffe werden gelöst und angereichert. Als gutes Lösungs- und flüssiges Transportmittel verteilt es Stoffe rasch und gleichmäßig im Körper oder spült sie aus. Unser Innenleben ist vom osmotischen Druck und Salzgehalt her vergleichbar mit dem Meerwasser, aus dem heraus sich das Leben entwickelte. Als die ersten Organismen an Land krochen, schleppten sie das segensreiche Milieu mit all seinen Eigenschaften einfach mit sich. Das bestimmt uns heute noch.

Wasser mischt sich wirklich mit allem, wenn auch nur in Spuren. Gerade beim Wasser gilt das Allmende-Prinzip: Was allen gehört, geht den einzelnen emotional nichts an. Deshalb kann man alles in das Transportmittel Wasser geben: Farbreste, Chemikalien und Pestizide. Die meisten Gifte riecht man nicht, schmeckt man nicht. Nur, wenn diese Spur kräftig riecht, gilt das Wasser für uns als ungenießbar. Alle Schüler lernen: Der berühmte Liter Öl verdirbt eine Million Liter Wasser. Und trotzdem waschen sie später ihren Wagen vor der Haustür. Einzelne Zellen merken sich aber den Eindruck, den eine bestimmte Substanz auf sie gemacht hat. Klammheimlich beschließt dann eine von 15 Billionen Zellen, endgültig die Karriere als Krebszelle einzuschlagen, motzt sich richtig auf und wird zur Krebsgeschwulst.

Im Wasser lösen sich auch Säure- oder Baseanhydride wie Stickoxide NOx, Kohlendioxid CO2, Schwefeldioxid SO2 oder Ammoniak NH3. Da Wasser selbst ein ausgeklügeltes Säure/Base-System ist, reagiert es mit diesen Stoffen oder mit atmosphärisch gebildeten Substanzen wie HCl, H2SO4 oder HNO3 zu einer der stärksten Säuren überhaupt: zu Oxonium H3O+, Bestandteil von Salz-, Schwefel- und Salpetersäurelösungen. Oxonium ist deshalb auch im sauren Regen enthalten. Hier wird Wasser zum Medium ohne Leben: Die Seen in Südschweden bestehen zwar noch aus Wasser, sind aber so angesäuert, dass sie keine Lebewesen mehr enthalten. Bewundernd steht der Reisende und Urlaubende vor dem klaren und reinen Wasser und ruft bewundernd aus: "Alles pure Natur!".

Und wenn Wasser scheinbar nicht alles lösen kann, wie z. B. Fette und fettlösliche Vitamine und fettlösliche Schadstoffe, vermischen wir es mit extrem polaren, grenzflächenaktiven Lösungsvermittlern, den Seifen oder Tensiden. Diese gibt es heute in der Umwelt bereits ausreichend - dank Werbung und fleißigen Hauspersonals, das sich mit der Herausforderung absoluter Sauberkeit (zumindest im persönlichen Umfeld) konfrontiert sieht.

Wie bei den Säure/Base-Reaktionen ist bei fast allen Redoxreaktionen in flüssigem Milieu Wasser direkt oder indirekt beteiligt. Es ermöglicht die Einstellung von Redoxgleichgewichten, ist wegen der großen Konzentration immer anwesend und sorgt für die Konstanz des Redoxpotentials. Wird das Redoxgleichgewicht z. B. durch Eutrophierung gestört, kippt ein Gewässer rasch in Richtung auf Lebensfeindlichkeit. Aber auch Korrosionsprozesse sind auf Wasser angewiesen: Ohne Wasser ist Korrosion nicht möglich. Streusalzhaltiges Oberflächenwasser und saures Regenwasser sorgen für extreme Beschleunigung von Rostbildung und Zerstörung von Aluminium.

Wasser kann durch Elektrolyse zerlegt werden. Hier besteht eine Möglichkeit zur umweltschonenden Energieumwandlung. Zersetzt man Wasser z. B. durch billige Energie von der Sonne, so entstehen Wasserstoff und Sauerstoff, die als erneuerbare Energieträger bei der Reaktion zu Wasser in Brennstoffzellen, Wärmekraftwerken oder Verbrennungsmotoren bei der Rückreaktion diese Energie wieder freisetzen und zur Arbeitsleistung herangezogen werden können:

Ein anderer Aspekt: Wasser hat den großen Flüssigbereich von 100 °C. D. h. es verdampft nicht bei jeder kleinen Temperaturveränderung wie das ähnlich gebaute Ammoniak NH3 im Kühlschrank bei -33 °C und gefriert auch nicht so rasch wie dieses bei -78 °C. (Unsere Adern würden ganz schön knirschen, wenn wir statt mit Wasser mit flüssigem Ammoniak oder Schwefelwasserstoff leben müssten. Bei jeder Auf- und Anregung würden wir ballonartig aufgeblasen oder innerlich erstarren.)

Wasser reguliert aber auch die Temperatur unserer Umgebung. Wasser speichert nämlich als leicht beschwingtes Molekül Wärme in großen Mengen. Und da es als "Spurengas" bis zu 5 Vol.-% in der Atmosphäre unseres Planeten enthalten ist, erwärmt es diese statt der von Astronomen berechneten Eiseskälte von -18 °C auf lebensfreundliche, schnuckelige globale Durchschnittstemperaturen von + 15 °C. Es ist somit das atmosphärische Treibhausgas überhaupt. Dabei lässt es allerdings die Wärmestrahlung der Sonne und die der Erdoberfläche passieren. Momentan sind wir offensichtlich erfolgreich dabei, dieses Infrarot-Fenster durch steigende Emission von CO2, Stickstoffoxid (vor allem N2O), FCKW, Methan und andere Kohlenwasserstoffe sowie Lösemittel zu schließen.

Wasserdampf wird vom Meer durch den Wind über die trockenen Kontinente transportiert, bildet Wolken, Regen, Hagel und Schnee. Der Motor dieses Transports lebt von der Energieaufnahme beim Wasserverdunsten und von der Energiefreisetzung beim Kondensieren. Manchmal resultiert daraus auch ein Hurricane in Amerika mit einem anschließenden kräftigen Tief bei uns. Dann zieht die Geologie-AG ihre Gummijacken an.

Bild 3 (Foto: Blume)


Wasser wäscht dabei auch die Atmosphäre aus. Das kann sauren Regen produzieren, aber auch Ruß auf dem Himalaya abladen. Das eigentliche Waschmittel der Atmosphäre sind jedoch die OH-Radikale, die bei der Bestrahlung der Atmosphäre oder durch Reaktion von Ozon mit Wasser entstehen:

Diese Stoffe reagieren aggressiv mit allen Substanzen, die irgendwie oxidierbar sind. Ihretwegen hat z. B. der allergenisierende Formaldehyd nur eine atmosphärische Lebensdauer von weniger als einem Tag. Aber es geht nicht immer gut: Zwar entfernen OH-Radikale den Luftschadstoff SO2, bilden daraus aber den Wasser- und Bodenschadstoff Schwefelsäure. Die Oxidation von Kohlenwasserstoffen, Aldehyden und besonders von Kohlenstoffmonoxid koppeln sie unter Mitwirkung der Stickoxide mit der äußerst schädlichen Ozonbildung in Bodennähe. Treffen sich zwei OH-Radikale, bildet sich daraus Wasserstoffperoxid H2O2.

Haben Sie auch gehört, dass man mit Eis Baumblüten vor Frost schützen kann? Man besprüht von Nachtfrost bedrohte Bäume ständig mit Wasser. Bei Temperaturen ab 0 °C bildet sich ein Eispanzer, der mit flüssigem Wasser und Wasserdampf im Gleichgewicht steht, dabei konstant 0 °C hält und bis -10 °C Schutz bietet. Unter diesen Bedingungen überleben selbst Apfelsinenbaumblüten in Californien.

Zurück zum Lösungsvermögen unseres phänomenalen Stoffes Wasser: Es löst relativ mehr Sauerstoff als Stickstoff, als in der Atmosphäre vorhanden ist. Damit ermöglicht es die Existenz höherer Lebensformen im Wasser. Davon profitieren nicht nur Fische, Lurche und andere Tiere, sondern auch Arbeitsgemeinschaften, die sich mit Limnologie, Fischen oder Algen befassen.

Aber wenn das Wasser dazu nicht noch die so genannte Sprunganomalie zeigen würde, könnten wir in jedem Winter (so es sie noch richtig gäbe) Fische aus dem Meer wie aus einer Tiefkühltruhe beziehen.

Wasser verändert nämlich sein Volumen mit der Temperatur auf abnorme Art und Weise. Zunächst nimmt das Volumen wie bei allen Stoffen erwartungsgemäß bis 4 °C ab ("Es schnurrt in der Kälte zusammen"), hat dort ein Minimum und steigt dann unerwarteterweise mit weiterer Abkühlung wieder an. Dann platzen selbst Felsen unter dem Kristallisationsdruck des sperrigen Eises auseinander. Aber auch die Titanic hat davon ihren Schaden wegbekommen: Wegen der um 10 % niedrigen Dichte schwimmt Eis auf der Wasseroberfläche. Dabei ragt allerdings nur ein Siebtel, eben die Spitze des Eisberges (das berühmteste Symbol aller Umweltprobleme) heraus.

Die eben erwähnte temperaturbedingte Volumenveränderung hat aber auch zur Folge, dass sich das Eis unter hohem Druck wieder verflüssigt. (Davon profitieren die Ski- und Schlittschuhläufer, aber auch die Gletschergeologen.) Hierauf beruht die Wanderung der Gletscher, deren Folgen wir heute noch in ganz Deutschland bestaunen.

Gibt man dem flüssigen Wasser kräftig Druck, so stellt sich dabei automatisch die Gleichgewichtstemperatur 4 °C ein, die nicht unterschritten werden kann. Aufgrund dieses Effektes können Seen in größeren Tiefen wegen des hohen Wasserdrucks nicht kälter als 4 °C werden. Sie frieren deshalb nicht von unten nach oben hin zu (wie es eine Eisenschmelze tun würde). Somit leben Fische und Lurche in gesundem Winterschlaf am Meeresboden, unberührt vom Eis.

Gesund ist der Winterschlaf aber nur, wenn die stehenden Gewässer nicht vom Umkippen bedroht sind. Die Schicht, bei der die konstante Temperatur beginnt, die so genannte Sprungschicht, vermindert den Austausch zwischen den Wasserschichten. Sind aufgrund von Eutrophierung diese Schichten von sauerstoffverzehrenden, anaeroben mikrobiellen Fäulnisprozessen bedroht, so wird auch das aerobe Bodenleben keine Existenzmöglichkeit mehr haben.

Fassen wir also zusammen:
Wasser ist für den chemisch orientierten Kenner ein stoffliches Wunder. Es gibt kein wesentliches Kapitel der Chemie ohne Wasser. Es bedeckt nicht nur zwei Drittel der Oberfläche der Erde, sondern hat aufgrund seiner molekularen Eigenschaften das Leben, wie wir es kennen, auf unserer Erde überhaupt ermöglicht. Die Lebensform, die wir kennen und schützen wollen, ist Existenz nahe am absoluten Nullpunkt. Nur hier gibt es die Möglichkeit, jene Makromoleküle (Nucleinsäuren, Proteine usw.) aufzubauen und zu bewahren, denen wir unsere Existenz verdanken. Bei einigen Graden mehr zerfallen diese Verbindungen wieder. Diese Lebensform verträgt als selbstregulierender Mechanismus im Sinne der Homöostasie vieles, aber auf die Dauer nicht alles.

Der Puffer, der uns zumindest in Grenzen vor extremen Temperaturschwankungen, Stoffansammlungen, pH-Wertabweichungen oder Änderungen des Redoxmilieus schützt, ist das Wasser und sein kleinstes Teilchen, das Molekül H2O.

Mit diesem wunderbaren Lebenselixier Wasser gehen wir um, als benötigten wir und die anderen Organismen es nicht. Dabei müssen wir am Tage einige Liter davon trinken! Wir benutzen es als Müllkippe, die dazu noch den Vorteil hat, dass sie zugleich als Transportmittel dient und alles wegschwemmt, so dass man den Müll nicht mehr sieht. Mit Adsorbern, Ionenaustauschern, riesigen Kläranlagen, Bakterien und Verdampfern bekommen wir ja unser tägliches Wasser auch wieder sauber. Besonders belastete Gewässer verbrennen wir sogar bei über 1000 °C, läutern es also in Flammen, entsorgen so die Schadstoffe zunehmend in der neuen Großmülldeponie Atmosphäre und husten hinterher.
Wasserreinhaltung kostet somit einen großen Teil der Umweltqualität, die die Reinigung gerade schaffen soll. Merken wir uns: Mit dem Wasser ist es wie mit dem Kinderzimmer. Unordnung und Verschmutzung zu produzieren gelingt spielerisch, Aufräumen erfordert dagegen Kosten, Arbeit und Energieaufwand. Jede Beseitigung eines einmal angerichteten Umweltschadens erfordert neuen energetischen und stofflichen Aufwand mit neuerlicher Schadstofffreisetzung, schädigt also ins Unendliche. Die Mathematiker sprechen von "Asymptotischer Annäherung"...

Resumée
Warum gibt es das absolute Reinheitsgebot eigentlich nur für deutsches Bier? Kann man damit - zumindest außerhalb von Bayern - Säuglinge füttern? Ich fordere hiermit, endlich das großartige und bewährte Bierreinheitsgebot von 1583 auch auf deutsches Trinkwasser auszuweiten! Schließlich will ich nicht als Alkoholiker enden, nur weil das Bier sauberer sein soll als Trinkwasser!

Rüdiger Blume

Quelle: Entnommen aus [1]


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Literatur


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Letzte Überarbeitung: 30. April 2010, Dagmar Wiechoczek