Eine Vorbemerkung: Was heißt in der Chemie Gleichgewicht?
Denkt man an einen Gleichgewichtszustand, dann fällt einem nur Positives ein. Da ist zunächst die Balkenwaage. Wenn sie im Gleichgewicht ist, denkt man sich das Gewicht am linken Waagebalken gleich dem am rechten Balken. Die Waage steht absolut waagerecht und dazu noch still. Menschen im seelischen Gleichgewicht befinden sich im Ruhezustand. Gleichgewicht zwischen Völkern hat den spannungsfreien Zustand des Friedens zur Folge.
Wenn der Chemiker das Wort "Gleichgewicht" hört, denkt er an etwas anderes. Für
ihn ist das der Zustand, der sich in reversiblen Reaktionssystemen zwischen Hin- und
Rückreaktion einstellt. Übertragen auf den Waagebalken muss das nicht Links- und
Rechts-Gleichstand sein, das heißt, dass sich die Waage auch im ausgesprochenen
Schiefzustand im Gleichgewicht befindet, was sicherlich richtig ist, aber beim Wiegen
nicht weiterhilft.
Dieser Zustand ist in chemischen Reaktionssystemen aber nicht ruhend (stationär),
sondern dynamisch. Im System werden Substanzen gleichzeitig aufgebaut und im
gleichen Umfang abgebaut. Ein Waagebalken würde also reibungslos hin- und
herschwanken. Sollen diese chemischen Reaktionen mehr oder weniger vollständig
ablaufen, muss eine gewisse Spannung im System vorhanden sein, ein
Energiepotential. Wenn dieses fehlt, ist das System nicht mehr reaktionsfähig.
Besonders interessant sind die Gleichgewichte, die bei den Abläufen in lebenden
Systemen eine Rolle spielen. Anders als man allgemein meint
beruhen die biochemischen Funktionen und damit das "Funktionieren" gesamter
Lebewesen auf dynamischen Gleichgewichtsprozessen. Die befinden sich auf
höchstem Niveau von Potential und Komplexität, das erst den für Lebewesen
typischen Durchfluss von Energie, Materie und Information ermöglicht. Man spricht
deshalb von einem "Fließgleichgewicht" und beschreibt damit ein extremes
Ungleichgewicht aller Abläufe. Organismen im echten chemischen Gleichgewicht sind
tot.
Der Ausdruck "Gleichgewicht" täuscht somit nur die absolute Stabilität von dynamischen Systemen vor. Die beruht auf selbstregulatorischen Prozessen, die einen Organismus in Grenzen befähigen, Störungen der Abläufe "wegzustecken". So ist das Ökosystem "Regenwald" wie ein lebender Organismus im Gleichgewicht (übrigens erst seit ca. 12.000 Jahren). Jeder kleine Organismus hat hierin seine Nische gefunden. Davon zeugt die ungeheure Artenvielfalt. Aber: Das Gleichgewicht steht sozusagen auf tönernen Füßen, nämlich auf einer nur 25 cm "mächtigen" Bodenkrume. Stört man dieses Gleichgewicht, indem man Schneisen schlägt oder große Waldareale gar rodet, so verschwindet die Krume. Das System Regenwald ist damit irreversibel aus dem Gleichgewicht gebracht.
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