Ein Vorwort

Im Chemieunterricht auf der Sekundarstufe I verlaufen chemische Reaktionen immer vollständig. Eine erst einmal angeworfene Verbrennung läuft ab, bis alles verbrannt ist. Bei Niederschlagsbildung wird scheinbar alles Lösliche ausgefällt. Nur in Ausnahmefällen hören die Schüler etwas von reversibel führbaren Reaktionen. Galvanische Elemente und Elektrolyse sind solche Beispiele.

Ein vollständiger Reaktionsablauf ist in der chemischen Realität eher selten. Spätestens im Unterricht auf der Sekundarstufe II muss klar sein: Viel öfter begegnet man dem Phänomen, dass chemische Reaktionen unvollständig ablaufen, ja, dass man sogar einen Stillstand des Reaktionsgeschehens beobachtet, bevor die Reaktionen in dem Sinne zu Ende sind, dass statt des Edukts nunmehr allein das Produkt vorliegt. Bei Einstellung des Gleichgewichts beobachtet man dagegen, dass Edukte und Produkte in bestimmten Mengenverhältnissen nebeneinander vorliegen.

Schüler verbinden mit dem Begriff Gleichgewicht den Aspekt der Ausgewogenheit. Schüler denken immer an waagerecht ausbalancierte Waagebalken, faire Justiz und ungestörtes Zusammenleben. Deshalb ist es schwer, Gleichgewichte im menschlichen Bereich von den dynamischen Reaktionssystemen der Chemie zu unterscheiden. Denn das normale chemische Gleichgewicht liegt in der Regel auf der einen oder anderen Seite, wird also durch einen Waagebalken mit stabiler Schieflage charakterisiert. Oder durch den schiefen Turm von Pisa - wie das folgende Bild zeigt.

Der schiefe Turm von Pisa (Foto: Daggi)

Bei Schülern ein Verständnis für chemische Gleichgewichte zu wecken ist das Ziel dieser Webseiten. Dahinter steckt nicht nur Verstehen der Abläufe der Probleme chemietechnischer Syntheseverfahren. Das betrifft auch umweltchemische Prozesse, die fast alle aus komplex ineinander greifenden Gleichgewichten bestehen. Auch die Reinigung von belasteten Umweltmedien hat ihre Grenzen in der Ausbildung von chemischen Gleichgewichten. Die Störbarkeit von eingespielten chemischen Gleichgewichten in der Natur ist Ursache vieler Umweltprobleme.
Weiterhin sind hier auch die biochemischen Reaktionen zu nennen, die in unserem Körper ablaufen und die die kontinuierliche Verschiebung von teilweise ungünstigen chemischen Gleichgewichten zur Voraussetzung haben. Nur dadurch wird ein Zustand möglichst weit weg vom Gleichgewicht gewährleistet, aus dem heraus chemische Reaktionen überhaupt ablaufen können. Denn in der Chemie bedeutet Gleichgewicht Stillstand, in der Biochemie Tod. Glücklicherweise können wir Gleichgewichte beeinflussen, ihre Lage verschieben.
Die dazu von dem Physikochemiker Le Chatelier erstaunlicherweise erst um 1884 formulierten Regeln vom Prinzip des kleinsten Zwangs gelten nicht nur in der Chemie, sondern auch in der menschlichen Gesellschaft. Beispielsweise lernen Schüler nur unter dem Druck der drohenden Prüfung.

Deshalb muss der Chemieunterricht sich mit der Lehre von den Gleichgewichten befassen. Hier geht es nicht nur um grundlegende Inhalte der Chemie, die nur durch die Modellvorstellung der Reaktionen zwischen Teilchen zu erklären ist. Dass dahinter sogar noch ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den reagierenden Teilchen steht, erschließt sich dem Schüler nicht sofort, ist aber wichtig unter dem Aspekt, dass sich in der Chemie Teilchen umsetzen.

Es wäre schade, wenn in den Richtlinien des Chemieunterrichts der Gedanke des chemischen Gleichgewichts keine Rolle mehr spielen sollte.

Hier ist auch ein Bezug zu den Literaturwissenschaften und Sozialwissenschaften zu erkennen. Gern wird Goethe zitiert, wenn es um chemische Austauschreaktionen und Gleichgewichte geht. Hierzu haben Ulrich Küng und Hans Christoph Berg aus Marburg eine hübsche Arbeit vorgelegt (siehe unten). Allerdings haben seine „Wahlverwandtschaften" eine linear voranschreitende Austauschreaktion zum Inhalt. Wäre es ein echtes Gleichgewicht im chemischen Sinne gewesen, hätte Goethe viel hübscher, gefälliger und vor allem spannender schreiben können. Denn ein Gleichgewicht beinhaltet ja auch die Rückreaktion. Solch ein Roman würde weniger tragisch enden. Ein Beispiel für einen literarischen Kreisprozess ist übrigens Artur Schnitzlers „Reigen“.

Darüber hinaus gibt die Beschäftigung mit der Gleichgewichtslehre zumindest für Fortgeschrittene die Möglichkeit, anhand der Herleitung von Algorithmen und der Berechnung von Gleichgewichtszuständen Erfahrungen im Potenzrechnen und Logarithmieren, in Algebra, Diffentialrechnung sowie Infinitesimalrechnung zu erwerben. Den Schülern kann - im Zusammenwirken mit qualifizierten Mathelehrern - an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass es sich lohnt, sich mit Mathematik zu befassen, weil ihnen hier der Sinn dieser Beschäftigung deutlich wird. Auch hierauf haben wir bei der Gestaltung unserer Webseite geachtet.

Zum Schluss ein Hinweis: Wie alle anderen Webseiten aus unserem Medienangebot werden auch die Webseiten zum chemischen Gleichgewicht ständig erweitert und aktualisiert. Deshalb lohnt es sich, öfter mal hineinzuschauen.

Literatur:
H. U. Küng: Chemisches Gleichgewicht. In H. C. Berg/T. Schulze (Hrsg.): Lehrkunstwerkstatt II. Berner Lehrstücke. Luchterhand: Neuwied 1998, S. 29-136 (ISBN: 3-472-03621-4).


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Letzte Überarbeitung: 03. März 2009, Dagmar Wiechoczek