Das Fullerenprinzip: Fächerübergreifendes Hintergrundwissen zum kubischen System

Rüdiger Blume, Achim Hildebrand, Uwe Hilgers, Anne Höner und Anja Schalk-Trietchen

Das Molekül des Buckminsterfullerens repräsentiert ein allgemein gültiges Bauprinzip der Materie, sei es im Mikro- oder im Makrokosmos. Es handelt sich um das kubische System. Die Beschäftigung mit den kubischen Körpern steht für einen exemplarisch fächerübergreifenden Lehrinhalt.

Als Formen von idealer Schönheit sprechen sie wohl alle Menschen besonders an. Es ist nicht nur die vordergründige Ordnung eines materiellen Körpers, sondern auch im übertragenen Sinne die Ordnung in Denken und Erklären, zu der durch Beschäftigung mit diesem System angeregt wird. Folglich sind diese Strukturen nicht nur in der belebten und unbelebten Natur, sondern auch in allem, was unsere Kultur ausmacht, also in Wissenschaft sowie in Kunst und Philosophie weit verbreitet. Schon Plato und Archimedes befassten sich mit diesen Körpern, die teilweise nach ihnen benannt wurden. Bekannt ist vor allem die philosophische Bedeutung der platonischen Körper, die lange Zeit in der Naturwissenschaft bestimmend war (Tabelle).

Platonische Körper Bedeutung
Würfel Erde
Tetraeder Feuer
Oktaeder Luft
Ikosaeder Wasser
Pentagondodekaeder Kosmos

Beziehungen Bedeutung
Feuer-Erde Trockenheit
Feuer-Luft Wärme
Wasser-Erde Kälte
Wasser-Luft Feuchtigkeit

Die platonischen Körper und ihre philosophische Bedeutung


Nach der Mathematik, die diese Körper zu konstruieren lehrte, entdeckte (allerdings erst viel später) die Biologie die gleichen Strukturen in Lebewesen - makroskopisch wie mikroskopisch. Die Theorie der chemischen Bindung zeigte, dass sich die Anordnung kubischer Systeme auch in molekularen und atomaren Größenordnungen wiederfinden lässt. Und zuletzt entdeckte man das Buckminsterfulleren, ein Molekül, dem nach dem Benzolring wieder einmal der Schönheitspreis der Chemie gebührt.

Dass auch ein Fußball diesem Bauprinzip entspricht, soll hier nicht unerwähnt bleiben.


1. Das Fullerenprinzip
Gerade in der Natur gibt es zahlreiche Beispiele für Strukturen, die aus Sechsecken zusammengesetzt sind. Diese sind meistens planar angeordnet und daher besonders spannungsarm. In der Chemie ist dies beim Graphit verwirklicht. In der Biologie lässt sich die flache Bienenwabe als Beispiel anführen.

Jedoch kann man ausschließlich aus Sechsecken keine geschlossenen Körper aufbauen; dazu bedarf es der Fünfecke. Der entsprechende zugrunde liegende kugelige Körper, der nur aus Fünfecken besteht, heißt Pentagondodekaeder. Dieses findet man oft bei Pyritkristallen (Bild).

Bild 1 (Foto: Daggi)


Aber auch in der belebten Natur gibt es (wenn auch selten) das Pentagondodekaeder. Das trifft für eine einzellige Kalkalge zu, die als schützende Hülle ein Pentagondodekaeder aus Calcitkristallen trägt. Die Alge hat den wissenschaftlichen Namen Braarudosphaera bigelowi.

Eine geschlossene Sphäre, die nur Fünfecks- und Sechsecksflächen enthält, braucht nicht mehr als zwölf Fünfecksflächen zu enthalten. Aus diesem Grunde muss man auf Abbildungen von vielflächigen Polyedern die Fünfecke regelrecht suchen. Ein Beispiel hierfür ist die Rundkuppel des amerikanischen Pavillons der Weltausstellung von Montreal, gebaut von dem Architekten Richard Buckminster Fuller.

Bild 2: Bild des amerikanischen Pavillons auf der Weltausstellung in Montreal
(Foto: Thomas Blume)


Auch andere Gebäude wie z. B. Radarkuppeln sind nach diesem Prinzip aufgebaut. Neuerdings gesellt sich auch der Gebäudekomplex des Eden Projekts in Cornwall zu diesen Kuppeln.

Und last but not least: Auch der Aufbau der Fußballhülle folgt dem Fullerenprinzip. Dies ist sicherlich das für Schüler bekannteste Beispiel für das Fullerenprinzip.

(Der Name Fuller stammt aus dem Mittelalter und war die Bezeichnung für einen Tuchmacherberuf, den Walker (lateinisch fullo). Dieser hatte die Aufgabe, das frisch gewebte oder gefärbte Tuch geschmeidig zu machen, indem er es knetete und klopfte, also walkte.)


2. Das kubische System als grundlegendes Prinzip der Natur
Bemerkenswert ist die in der Natur sichtbare breite Variationsmöglichkeit der kubischen Struktur (wie wir sie mit den Begriffen Platonische und Archimedische Körper verbinden).

Bekannt sind die fünf Platonischen Grundkörper des kubischen Systems, die untereinander verwandt sind und denen wir vor allem im Chemieunterricht begegnen: Tetraeder beim sp3-Hybrid der Kohlenstofforbitale wie im Methanmolekül oder beim Diamantkristall, Würfel beim Natriumchlorid oder Bleiglanz, Oktaeder beim Alaun, Pentagondodekaeder beim Pyrit, Rhombendodekaeder beim Granat und Ikosaeder bei bestimmten Viren wie dem Adeno-Virus sowie dem Hepatitis A-Virus oder dem Hepatitis C-Virus. Bemerkenswerterweise schreibt Plato: "Menschen werden krank, wenn sie zu viele Ikosaeder im Körper haben."


Beispiele für die Archimedischen Körper sind das abgestumpfte Ikosaeder des C60-Fullerens (bzw. Fußballs) oder das Pentakisdodekaeder eines Aids-Virus. Dessen Außenhülle hat übrigens ebenfalls die Struktur eines Fußballs.

Pentakisdodekaeder


Bemerkenswert ist, dass das Außen-Capsid des Aids-Virus dem C60 gleicht.

Die kubischen Strukturen von C60, Adeno-Virus und Aids-Virus lassen sich nämlich durch einfache geometrische Operationen ineinander überführen (vergleiche folgendes Bild): C60 erhält man durch Abstumpfen eines Ikosaeders (Adeno-Virus); das Pentakisdodekaeder (Innen-Capsid des Aids-Virus) ist der zugehörige duale Körper.

Zwei Körper sind zueinander dual, wenn jede Fläche des einen Körpers einer Ecke des anderen entspricht. Beide Körper haben die gleichen Symmetrieeigenschaften. So sind z. B. Würfel und Oktaeder duale Körper.
Abgestumpfte Körper erhält man, wenn man die Spitzen abschneidet. Kappt man z. B. die Spitzen eines Würfels, so entsteht das Kuboktaeder.


Warum aber entstehen vorrangig kubische, kugelige Strukturen?
Die physikalische Grundlage dafür ist das Streben der Materie, sich bei Aggregation in spannungsfreien Verteilungsmustern anzuordnen. Die höchste Symmetrie zeigt das kubische System. Bei diesem stehen die Achsen senkrecht aufeinander, die Achsenabschnitte sind in alle Raumrichtungen gleich lang. So ist das Molekül CH4 spannungsfrei, da seine vier Bindungen in die Ecken eines kubischen Tetraeders weisen.

Folglich entstehen bei der Akkumulation von kondensierter Materie, vor allem, wenn sie nur aus einem Grundbaustein besteht, vorrangig vollkommen symmetrische Körper. Wenn der Körper im Vergleich zu den ihn aufbauenden Teilchen sehr groß ist, erhält man als Folge dieses Bestrebens glatte Kugeln. Bei diesen stehen die Achsen senkrecht aufeinander, die Achsenabschnitte sind in allen Raumrichtungen gleich. Die Körper sind kugelig, weil die Kugel der Körper mit kleinster Oberfläche bei gegebenem Volumen und damit mit geringster potentieller Energie ist. Dies ist deshalb auch die Form, die ein fallender Wassertropfen spontan annimmt.

Dass das kubische System die spannungsfreieste und damit bevorzugte Anordnung gewährleistet, zeigt folgende Beobachtung: Bei den Fullerenen bildet sich vor allem das kugelsymmetrische C60, während die weniger kugelige Struktur des C70-Fullerens wesentlich seltener entsteht.

Sind die Teilchen bzw. Konstruktionselemente und die aus ihnen gebildete Struktur ähnlich groß (wie Atome beim C60, Lederstückchen beim Fußball, Platten bei geodätischen Kuppeln, Einzelaugen beim Facettenauge der Gliedertiere), muss notwendigerweise ein Polyeder resultieren. Wegen der Gleichförmigkeit in alle Richtungen kann dies nur ein kubischer Körper sein. Diese kugeligen Strukturen spielen in Kristallographie, Biologie und neuerdings auch in der Chemie eine wichtige Rolle.

Natürlich können sich kubische Körper auch bilden, wenn wie beim Pyrit unterschiedliche Bausteine unter eine hohe Ordnung aufbauen können. Vor allem zeigen viele Kristalle dann kubische Formen, wenn in ihnen das kubische Bauprinzip der Elementarzelle nahezu unendlich viele Male wiederholt worden ist. Den Diamanten mit seinen tetraedrisch angeordneten Kohlenstoffbindungen findet man in der Natur als Würfel, Tetraeder und Oktaeder. Viele Metallgitter wie das des Chroms sind kubisch aufgebaut; Chrom kristallisiert also in Würfeln.

Ganz besonders bietet sich hier das Studium der verschiedenen Kristallformen des Pyrits an, bei dem kubische Grundkörper vom Würfel über Oktaeder bis hin zum Pentagondodekaeder ("der aus zwölf Fünfeckflächen zusammengesetzte Körper") und noch höhere Strukturen ("Pyritoeder") zu finden sind.


3. Beispiele aus der Biologie
In der belebten Natur gibt es zahlreiche Beispiele für planare Strukturen, die aus Sechsecken zusammengesetzt sind. Bei der flachen Bienen- bzw. Wespenwabe ist ein möglichst großer Austausch mit der Umgebung gewünscht.

Bild 3: Wespenwabe
(Foto: Daggi)
Bild 4: Bienenwabe
(Foto: Bernd Rüter)


Bei den Lebewesen selbst muss der Kontakt mit der Umwelt möglichst gering gehalten werden. Der freie Austausch von Materie oder Energie erreicht ein Minimum und wird dadurch kontrollier- und steuerbar. Deshalb besitzen sie bei gegebenem Volumen eine möglichst kleine Oberfläche. Deren Strukturen müssen möglichst energiearm, d.h. spannungsfrei sein. Folglich ähneln die Strukturen solcher Lebewesen denen der Fullerene.

Beispiele für aus Sechsecken zusammengesetzte biologische Körper sind das Facettenauge, kugelige Algen, die Ananasfrucht oder der Schildkrötenpanzer. Sie enthalten in der Regel das von den Fullerenen her bekannte Verhältnis hexagonaler und pentagonaler Strukturelemente. Das Bauprinzip wird zunächst bei relativ kleinen Organismen deutlich, die nur aus einer oder wenigen Zellen bestehen, wie z. B. den Grünalgen. Weitere, hier einzuordnende Organismen, die nur aus einer oder wenigen Zellen bestehen, sind die Radiolarien.

Eine starke Vergrößerung kann sogar dazu führen, dass die sechseckigen Bauelemente so sehr überwiegen, dass (wie bei geodätischen Großkuppeln) die Fünfecke demgegenüber nicht mehr auffallen. Beispiele hierfür sind das Facettenauge oder die Kugelalgen wie Volvox globator.

Hier sei noch einmal an die bereits angesprochenen Viren erinnert, die an der Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur existieren. Sie bestehen typischerweise aus einer äußeren Proteinhülle, welche die Erbsubstanz (DNA oder RNA) umgibt. Die Proteinhülle (Capsid) wiederum ist aus mehreren Proteineinheiten (Capsomere) aufgebaut, wobei die Capsomere Strukturen kubischer Symmetrie bilden. Ein Beispiel ist der CCM-Virus (Cowpea chlorotic mottle virus), der bestimmte Bohnenarten befällt (Bild). Auch dessen Capsid zeigt die Symmetrie eines Fußballs.

Capsid des CCM-Virus


4. Das kubische System als fächerübergreifender Unterrichtsgegenstand
Die Schüler sollten wissen, dass es sich bei den Fullerenen um Repräsentanten eines grundlegenden Prinzips der Natur handelt: Es ist das Ergebnis des Bestrebens, Strukturen mit minimaler potentieller Energie oder mit möglichst kleiner Oberfläche bei maximalem Volumen zu bilden. Daneben sind auch philosophische sowie künstlerische Aspekte mit einzubringen. Hier soll ein Überblick über mögliche Einsatzpunkte für die Beschäftigung mit kubischen Systemen gegeben werden. Die Liste kann sicherlich erweitert werden.


Mathematik
Praxisbezogene Anwendung der sonst nur theoretisch abgehandelten dreidimensionalen Geometrie vor allem kubischer Systeme, dazu Symmetriebetrachtungen, Gruppentheorie. (Dies sind mittlerweile auch grundlegende Inhalte der Chemie.)


Biologie
Viren (z. B. Pocken- oder Aidsviren), Grünalgen, Facettenaugen, fossile Hexakorallen aus dem Devon der Eifel, Schildkrötenpanzer und viele Pollen folgen dem Bauprinzip der Fullerene.

Physik
Oberflächen von Körpern und potentielle Energie, Astrophysik (wegen der Entdeckungsgeschichte der Fulleren), Spektroskopie, Molekülorbitale.


Chemie
Neben dem Kristallbau von Diamant, Salzen und Metallen kann auf die Bindungsverhältnisse bei sp3-hybridisierten Elementen wie Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff (am Beispiel ihrer Wasserstoffverbindungen) eingegangen werden. Hinzu kommen auch die unverzerrten Oktaeder und andere kubische Strukturen bei Komplexverbindungen. Nicht zu vergessen: die Fullerene.


Informatik
Anhand der Fullerene kann die gezielte Internetrecherche im Sinne der Erlangung von Medienkompetenz geübt werden.


Philosophie, Geschichte der Naturwissenschaften
Über die Natur und Form der kleinsten Teilchen der "Elemente" Feuer, Wasser, Erde, Luft und Kosmos waren Vorstellungen von kubischen Körpern weit verbreitet (Platon, Archimedes).


Kunst
Darstellungen von Platonischen sowie von Archimedischen Körpern in den Werken von M. C. Escher, oder die Architektur geodätischer Kuppeln von Buckminster Fuller, wie man sie auch von Radarkuppeln her kennt. Konstruktion, Zeichnung und Bau von Archimedischen Körpern können in der Schule geübt werden.


5. Schlussbemerkung
Zur Anwendung des Prinzips in Kunst und Architektur sei ein Hinweis erlaubt, der an Metaphysisches anknüpft: Vielleicht empfinden wir die kubischen Strukturen als über alle Maßen schön, weil sie so zweckmäßig sind. Oder anders ausgedrückt: Vielleicht hat die Natur sie so zweckmäßig gestaltet, weil sie so schön sind. Gerade in Waldorfschulen wird deshalb der Themenkreis "Kubische Systeme/Platonische Körper" verbindlich unterrichtet. Hier könnte die Beschäftigung mit den Fullerenen ein schönes konkretisierendes Beispiel sein.

Zu diesem Thema gibt es neuerdings (Januar 2001) eine sehr schöne Webseite von Michael Rockstroh, der diese Seite im Verlauf seiner Arbeit bei der Mathematikdidaktik der Universität Bayreuth erstellt hat:

http://btmdx1.mat.uni-bayreuth.de/~rockstroh/


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Diese Seite ist Teil eines großen Webseitenangebots mit weiteren Texten und Experimentiervorschriften auf Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie.
Letzte Überarbeitung: 05. Februar 2012, Dagmar Wiechoczek