Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie


Tipp des Monats November 2020 (Tipp-Nr. 281)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Becoming Friend of Chemistry: Wie ich zur Chemie kam

Rüdiger Blume


Warum dieser Text?
Home-Schooling unter Carona-Stress: Es ist eine chaotische Zeit vor allem für Schulkinder. Der Unterricht mit dem Computer klappt nicht immer. Viele Kinder sind zu Hause unterbeschäftigt. Könnte man die Kids nicht für Naturwissenschaften begeistern?

Eine vergleichbare Zeit haben wir als Kinder in der Kriegs- und in der Nachkriegszeit erlebt. Deshalb lassen Sie mich erzählen, wie es ohne sonderliches Zutun der Schule zu meinem Interesse für die Chemie und für die Naturwissenschaften allgemein kam. Vielleicht ist das eine Anregung für Sie und Ihre eigenen Kinder!

Vorneweg: Trotz aller oftmals leider berechtigten Kritik am Fach: Ich mag Chemie!
Um zu erklären, wie es dazu kam, will ich in meiner Erinnerung kramen.


Ein hilfreiches Zuhause
Mit Spaß und Interesse habe ich kleine naturwissenschaftliche und hier vor allem chemische Experimente durchgeführt – alles unter wohlwollender Begleitung meiner Eltern und Großeltern. Ich hatte alle Bedingungen zum Forschen: Da war das alte Haus mit Rückständen aus einem altem Kaufmannsladen...

Meine Eltern haben nämlich in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ein altes Haus komplett mit Mobiliar und Gerümpel gekauft. Dabei waren schwer zu entsorgende Rückstände wie dicke Schwefelstangen und Schwefelfäden, dazu grobe wässrige Kristalle von Sodakristall und rote Kristalle von Blutlaugensalz, grünrot schimmernde Indigobrocken (die merkwürdigerweise eine blaue Aufschlämmung ergaben) - und vieles andere mehr. Und dann die Säureflaschen. Für Aspekte der organischen Chemie sorgten Petroleum sowie Essig, Ameisensäure und Alkohol. Mit der Entsorgung nahm man das früher nicht so genau. Hatte man großen Speicherraum (so wie wir), so lagerte man erst einmal alles zwischen - zwischen Wegräumen und Wegwerfen. Und dann hatte man bald (wie ich gleich erzählen werde) mich als Oberentsorger.

Zu den Substanzen kamen chemische Geräte des Sohns der alten Kaufmannsfrau, der sich dem Vernehmen nach für Chemie interessiert hatte und selbst herumexperimentierte. Heute wäre mancher Schullehrer (und manches Museum) froh, die Menge an Reagenzgläsern, Kolben, Schläuchen, Kühlern und Pipetten zu haben.

Gegenwärtig würde man vieles zum Sondermüll zählen müssen. Die Sachen habe ich habe alle entsorgt – damals auf meine Art und Weise: Ich habe die Geräte wie auch die Chemikalien bei meinen Experimenten verbraucht.

Hinzu kam: Ich hatte verständnisvolle Eltern und Großeltern, später auch entsprechend eingestellte Lehrer. Die unterstützten mich alle auf ihre Art und Weise. In heutigen Zeiten wäre ich wahrscheinlich auch Mitglied in einem naturwissenschaftlichen Verein geworden. Dessen Prägekraft darf man nicht unterschätzen.

Vor allem aber meine Mutter hat meine Naturliebe geschult und mir in der freien Natur Tiere und Pflanzen gezeigt und erklärt. Sie verzieh mir dazu immer wieder, wenn ich Unsinn anstellte, zum Beispiel mit ihren metallenen Parfüm-Trichterchen, mit denen sie aus einer großen Vorratsflasche ihr Parfüm in kleine Fläschchen mit superkleinen Öffnungen umzufüllen pflegte. Damit konnte ich natürlich auch Salzsäure umfüllen…

Und dann waren da die Nachbarskinder und auch Schulfreunde – mit denen habe ich experimentiert und auch viel diskutiert. Zu nennen sind vor allen Klassenkameraden wie Henrik H. und Albrecht G.

Natürlich haben wir auch Mist gebaut… Erwähnt werden sollen einschlägige Experimente mit Zucker, über die man heute nicht mehr reden sollte. Die hatten darüber hinaus für den Haushalt einen ständigen Zuckermangel zur Folge.


Kristalle
Besonders angetan haben es mir immer die Kristalle. An der Soda zum Beispiel habe ich gelernt, dass nicht nur Menschen, sondern auch Kristalle verwittern können... Die altern förmlich, wenn sie lange liegen. Aus den Kristallen mit den blanken Oberflächen werden trübe Steine. Darüber habe ich lange nachgedacht.

Opa und Vater hatten einen Rasierstein, den adstringierenden Alaun. Den brauchten sie zum Blutstillen. Denn das Rasieren war früher eine blutige Angelegenheit. Den zunächst quaderförmigen Kristall habe ich aufgelöst und erneut kristallisiert und erhielt dabei prächtige Oktaeder. Und viele andere Salze, die ich im Hause als grobe Pulver oder Aggregate vorfand, konnte man zu prächtigen Einkristallen züchten – so das rote Blutlaugensalz. Von dem erfuhr ich erst später, dass es giftig ist. Naja, ich hab die Substanzen ja auch nicht probiert.

Überhaupt: Wie viele verschiedene Kristalle es in der Natur gab! In jedem Steinbruch, auf jedem Steinhaufen waren welche zu entdecken. Ich kann auch heute noch nicht daran vorbei gehen, ohne einen schnellen Blick hineinzuwerfen… Das tun ja wohl auch heute noch alle Kinder. Auch heute habe ich noch Steine, die ich während meiner Jugend gefunden habe.


Metalle
Faszinierend waren natürlich auch die Metalle. Kinder nennen sie alle Eisen, halten sie grundsätzlich für schwer und magnetisch. Dass das nicht stimmte, merkte ich bald, denn unser Haus enthielt eine Vielfalt verschiedener Metallarten. Diese luden zum Experimentieren ein.

Die Dachrinnen aus Zink sowie aus Blei wurden in Suppentöpfen auf dem Gasherd eingeschmolzen. Die Metallschmelzen wurden zur Untersuchung der Legierungsmöglichkeiten vermischt (was misslang, weil sich die beiden Metalle nicht nennenswert mischen – was ich mir bis heute gemerkt habe).

Anders war das mit dem Kupfer: Warf man Kupferblech oder Kupfermünzen (die noch aus dem Kaiserreich stammten) in eine Zink-Schmelze, wurde die Oberfläche des Kupfers golden: Messing war entstanden.


Salzsäure
Und dann die Salzsäure! Mit wie viel Spaß und Interesse habe ich zugesehen, wie sich von mir mühsam abgesägte Teile unserer zinkenen Dachrinne in Salzsäure zersetzen! Der Geruch sitzt mir immer noch in meiner Nase. Und ich merkte schon bald, dass dabei mit der Zeit die Säurewirkung abnahm. Ich lernte, dass die Konzentration von Säuren ihr chemisches Reaktionsverhalten bestimmt.

Das Experimentieren mit konzentrierter Salzsäure hat vielleicht auch zu meiner chronischen Nebenhöhlenentzündung geführt. Denn die Dämpfe gelten als ätzend. Gleiches gilt für die Ammoniakdämpfe aus der Salmiaklösung, die gegen Mückenstiche Verwendung fanden. Klar, heute weiß jeder alles besser. Vieles in der Chemie ist sicherlich ungesund. Aber was tut man nicht alles für sein Hobby! Ich tröste mich: Ein Freund der Literatur bekommt sicherlich irgendwann schlechte Augen – vom vielen Lesen. Meine Biologie-Professorin, die mich in die Mikroskopie einweihte, hatte einen Sitzbuckel. Philosophen und Theoretiker neigen vielleicht zum Gehirntumor. Ein Bier- oder Weinprüfer sieht Problemen mit der Leber entgegen. Ein Tester für Fast Food-Restaurants ist berufsbedingt von einer ganzkörperlichen Verfettung bedroht. Ein großer Insulinforscher war selbst zuckerkrank. Und die Psychotherapeuten, die ich so kenne... - naja.

Wer konnte das besser schildern als Karl Aloys Schenzinger? Dessen Bücher habe ich geradezu verschlungen und von den darin beschriebenen Forscher-Lebensläufen geträumt. Man kann sagen, dass dieser Mann eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern geprägt hat. Das wird deutlich, wenn man seine Titel liest: „Anilin“, „IG Farben“, „Atom“, „Metall“, „99 % Wasser“ und „Magie der lebenden Zelle“.

Für meine Eltern aber gab es vor allem materiellen Schaden – sogar noch über das missbrauchte Parfümtrichterchen und die verlorenen Dachabdeckungen hinaus: Ich habe ständig die häuslichen Salzsäurevorräte (eigentlich gedacht zum Kachel- und Fliesenreinigen) aufgebraucht. Ich sehe sie noch vor mir – erstens meine netten Eltern und zweitens die typischen achteckigen Salzsäureflaschen. Sie – also meine Eltern - haben sich wohl gewundert und geseufzt und immer wieder neue Flaschen voll konzentrierter Salzsäure gekauft, murmelten wohl etwas von „hohem Dampfdruck“ und so weiter. Später habe ich freiwillig den Einkauf übernommen, bin ich persönlich in die Drogerie gewandert und habe auf diese Weise für konstanten Nachschub gesorgt. (Sonst war ich nicht so eifrig, wenn es um das Einkaufen ging. Die Ausnahme war das abendliche Bier für den Vater, das ich aus der Kneipe um die Ecke holen durfte. Das gab es nämlich in einem großen Krug, aus dem ich beim Heimweg immer einen Schluck zu nehmen pflegte. Auch das ist eine der nicht wenigen Angewohnheiten aus der Jugend, die man ein Leben lang gern beibehält…)

Wo wir gerade beim Einkaufen sind: Milch wurde früher im Milch- und Käseladen in eine mitgebrachte Henkelkanne gepumpt. Mit der konnte man prächtig die Physik der Fliehkräfte studieren. Wenn man nämlich die Kanne am langen Arm über dem Kopf drehte, so lief sie nicht aus. Pech war nur, wenn der Bügel riss. Auch beherrschte nicht jeder das Abbremsen nach dem Testlauf. Dann pladderte mit einem Schlag alle Milch hinaus. Das waren unsere ersten naturwissenschaftlichen Experimente!

Heute ist das Einkaufen viel langweiliger geworden. Man kauft Milch in Tetrapacks gefüllt. Dass das Müllproblem über uns kam, hat seinen Grund nicht nur in der Kunststoffindustrie, sondern in der gesetzlich verankerten Verpackungswut: Das geschah zum Schutz des Verbrauchers vor Verschmutzung der Lebensmittel oder vor Infektionen durch Verdorbenes. Jüngst war ich in einem Ökoladen in England, um Erdnüsse zu kaufen. Als sich der Ladenbesitzer vorm Befüllen einer Papiertüte erst – pardon – im Hintern und dann auf dem Kopf kratzte, habe ich das Weite gesucht.

Zurück zur Salzsäure: Wenn man Zink (also Stücke von metallenen Dachrinnen) mit Salzsäure zersetzt, entsteht ein Gas. Das ist Wasserstoff, wie ich heute weiß. Damit wurden die Zeppeline gefüllt, die damit fliegen sollten. Das habe ich ausprobiert: Das Gas habe ich in die damals ersten, noch raren Plastiktüten abgefüllt, die flogen auch richtig in die Höhe. Damit habe ich meine ersten durchschlagenden Knallgasversuche gemacht – beruhend auf dem berühmt-berüchtigten Zeppelin-Experiment von 1937 (Explosion der Hindenburg). Dass ich dabei einmal einen Teil der Fenster meiner Mansarde, die ich bewohnte, entglast habe, sei nur am Rande erwähnt.

Meine Experimente mit dem Dachrinnenmetall hatten noch eine andere Auswirkung: Eines Tages regnete es in unser Haus hinein - weil die Dachrinnen als Folge meiner Experimente an einzelnen Stellen ziemlich löcherig geworden waren. Nach dem Hinnehmen eines mächtigen Verweises durch meine Eltern, die den Grund der Löcherigkeit der Zink-Dachrinne erahnten, habe ich mich anderen Metallen zugewandt.

In der Folge habe ich bei der Säurebehandlung alles ausprobiert, was nach Metall aussah: Metalle sind ja bekanntlich metallisch glänzend, biegsam, nicht transparent und (so meinte ich - wie heute noch viele Kinder es tun) schwer. Ich habe auch einen Magneten benutzt: Der wirkte aber merkwürdigerweise nur bei wenigen Metallen, genau genommen nur bei einem: Eisen. Und auch bei Stahl. Dass Stahl eine Eisenmischung ist, habe ich erst später gelernt. Aber nicht jeder Stahl reagierte. Es gab wohl verschiedene Mischungen.

Blei reagierte nicht mit Salzsäure – merkwürdig. Das Blei fand ich zunächst nicht am Dach, sondern an anderen Stellen im Haus. Da war zuerst ein Stallgebäude, das langsam zerfiel. Ich merkte, dass seine Steine mit Bleiankern zusammengehalten wurden. Zusammen mit meinem Bruder gelang es, die Bleianker zu entfernen. Irgendwann fiel deshalb auch die Wand um. Aber den Stall brauchten wir sowieso schon nicht mehr. Später entdeckte ich, dass die Gardinen im Hause mit Bleikugeln beschwert waren. Irgendwann fiel es dann auf, dass die Gardinen nicht mehr so schön stramm hängen, sondern Falten warfen… Also war eine neue Quelle für Blei aufzutun: Die Dachabdeckungen um die Schornsteine waren vom Dachdecker mit Bleiblech liebevoll nachmodelliert worden. Um an dieses Blei zu gelangen, musste ich aus dem Dachfenster auf das Dach steigen.

Heute weiß ich, dass Blei mit Salzsäure einen schwerlöslichen Überzug von Bleichlorid bildet, der keine Säure mehr an das Metall heran lässt. Und ich weiß, dass Blei und seine Verbindungen sehr giftig sind. Ich habe nichts davon gespürt – will das Problem aber auf keinen Fall verniedlichen!

Ich nahm statt des Bleis auch Eisen. Ich sammelte alles an Eisen, nahm Nägel und anderes und führte eine fast professionelle Materialerprobung durch. Nun gab es zwar keine Löcher mehr in der Dachrinne, dafür aber auch keine herausstehenden Nägel und Schrauben mehr im Haus. Bemerkenswert, dass sich die wasserklare und farblose Salzsäure im Nu bei Kontakt mit Eisen in eine gelbe Lösung umwandelte. (Es bilden sich gelbe Eisenchlorverbindungen.)

Selbst die sorgsam gehüteten Goldmünzen meiner Eltern (die ich natürlich bei meinen Streifzügen gefunden hatte) mussten dran glauben, wenn es um die Säureprobe ging. Glücklicherweise war es nicht Messing oder Bronze, sondern echtes Gold. Die Münze blieb unbeeindruckt. Ich konnte sie als ausgeliehen wieder in das „Geheimfach“ meiner Eltern zurücklegen. „Glücklicherweise“ sage ich deshalb, weil ich bald feststellte, dass manche Messingschraube in der Salzsäure zur Kupferschraube mutierte – weil das Zink herausgeätzt wurde. Ich lernte so, was Legierungen sind: Mischungen von Metallen. Nicht auszudenken: Wenn die Goldmünzen Fälschungen gewesen wären und aus Messing bestanden hätten!

Aber auch das Silberbesteck war unbeeindruckt von der Salzsäure. So lernte ich, was Edelmetalle sind.

Auch der goldglänzende Pyrit („Katzengold“), den ich in einer Steinsammlung ausgegraben hatte, wollte nicht reagieren. Heute weiß ich, dass man den zusammen mit Zink in Säure legen muss. Dann wird er „aufgeschlossen“ und zersetzt sich; alles riecht nach faulen Eiern. (Von diesem Geruch unten mehr.)


Häusliche Schwefelchemie
Den Schwefel fand ich in vielen Formen in den Rückständen des alten Krämerladens. Da waren Fäden (auch heute noch notwendig zum Ausschwefeln von Fässern für selbst gestampftes Sauerkraut, um Fehlgärungen zu verhindern), Schwefel-Pulver („Schwefel-Blume“) und auch viele fette Schwefelstangen. Damit habe ich viele Experimente gemacht. Ich habe den Schwefel erhitzt und sein merkwürdiges Schmelzverhalten studiert. Mein Interesse erweckte, wie sich die Farbe des Schwefels dabei von Gelb nach Rotschwarz veränderte. Und das Allermerkwürdigste, was ich immer wieder probiert habe: Schwefel wird, wenn man ihn erhitzt, erst flüssig, dann aber über einen Zeitraum hinweg wieder fest, bevor er sich dann entschließt, wieder so richtig flüssig zu werden und mit gelbem Dampf zu sieden. Und wenn man ihn zum richtigen Moment in kaltes Wasser gießt, entsteht eine kaugummiartige Substanz. Die haben wir auch gekaut – denn das Gummikauen war damals „in“. Gelernt haben wir es bei den amerikanischen GIs, die kriegsbedingt bei uns im Hause wohnten und uns Kinder mit allem, was sie selbst hatten, verwöhnten. Glücklicherweise ist Schwefel völlig ungiftig.

Beim Schmelzen habe ich den Schwefel das eine oder andere Mal auch versehentlich entzündet. Ich habe seine blaue Flammenfarbe bewundert und mir auch den Geruch nach Schwefeldioxid - also den Geruch von Braunkohleheizungen eingeprägt.

Schwefel diente mir auch zur Reaktion mit Eisenspänen, die ich mir mit Hilfe einer Feile durch Bearbeiten von beliebigen Eisenteilen wie zum Beispiel Stahlträgern selbst hergestellt habe. Wie schön das aufglühte, wenn ich die Mischung aus Schwefel und Eisenfeilspänen entzündete! Es entstand eine schwarz-grau glänzende Masse, die – mit Salzsäure übergossen – ein nach faulen Eiern riechendes Gas entwickelte. Diese typische Geruchsmischung aus Salzsäure, Eisenverbindungen und Schwefelwasserstoff vergesse ich nie.

Ein Freund von mir stellte sich bald selbst Schwefelwasserstoff her, mit dem er sein Zimmer einnebelte. Er brauchte den Geruch irgendwie wie Schiller das Schnuppern an seinem faulenden Apfel. Heute weiß ich, dass Schwefelwasserstoff ein Suchtmittel ist. Glücklicherweise störte es andere im Haus so sehr, dass dieser Sucht nicht allzu lange und intensiv gefrönt werden konnte. Denn Schwefelwasserstoff ist giftig – sogar giftiger als Blausäure. Sein Problem: Wenn man nichts mehr riecht, ist es zu spät; denn Schwefelwasserstoff ist ein Nervengift.

Aber dann habe ich dummerweise auch einmal ein Stück der Zinkdachrinne klein gefeilt und mit Schwefel gemischt. Erwartungsfroh habe ich das Reagenzglas erhitzt – und eine kräftige Explosion erlebt. Also – nicht nachmachen...


Quecksilbertropfen
Ein ausgiebiges Forschungsobjekt meiner Jugend war das Quecksilber. So, wie ich mit dem Quecksilber herumgepanscht habe, müsste ich heute davon eigentlich einen Nervenschaden haben. Wie bin ich zum Quecksilber gekommen? Nun, früher gab es fast ausschließlich Quecksilberthermometer. Auch die ersten Luftdruckmesser waren quecksilberhaltig. Die veraltete Druckangabe mm Hg = Torr beruht ja bekanntlich auf der Beobachtung des Italieners Torricelli, dass eine Quecksilbersäule von 760 mm dem Normaldruck der Luft standhält. Auch Geräte zum Blutdruckmessen waren mit Quecksilber gefüllt.

Alle die Geräte hatten die unangenehme Eigenschaft, irgendwann zu Boden zu fallen und zu zerbrechen. So gab es mit großer Sicherheit Glasbruch, wenn wir Geschwister und Freunde rangelten oder jemand beim Putzen unvorsichtig war.

Die Folge waren Quecksilbertropfen am Boden. Ich habe das Quecksilber fleißig eingesammelt. Beileibe tat ich das nicht, um es zu entsorgen! Ich habe das flüssige Metall auf einen flachen Teller gefüllt, den ich in den Wohnzimmerschrank stellte. Ich konnte mich nicht satt sehen: Viele kleine Tropfen des flüssigen Metalls bildeten erstaunlicherweise immer einen großen Tropfen. Den habe ich wieder geschüttelt – er zerfiel dabei in viele kleine Tropfen – und dann habe ich mich gefreut, wie die Tropfen langsam wieder zusammen wuchsen.

Etwas einschränkend muss ich gestehen: Wenn dann so ein Quecksilbertropfen mal verschüttet wurde, war kein leichtes Unterfangen, ihn wieder einzusammeln - bei einem Fußboden, der aus groben Eichenplanken mit vielen Fugen dazwischen bestand. Gedacht hat man sich dabei zu meiner Jugendzeit gar nichts. Heute ist das ganz anders: Da sträuben sich einem die Haare, wenn man so mit Quecksilber umgeht. Es gehört zusammen mit seinen Verbindungen zu den giftigsten Schwermetallen.


Kalk und Salzsäure
Besonders gern hab ich mit Kalk- und Mergelstein gearbeitet. Die wasserklaren Kalkspat-Kristalle fand ich überall. Da war vor allem der Bahndamm bei unserem Wochenendhaus. Den haben wir fast untertunnelt, als wir merkten, dass man da neben den Kristallen auch schöne Ammoniten und Seelilien-Stängel aus dem Muschelkalk finden konnte.

Vor dem Einsatz der Chemie gab es das zur Physik gehörende Spalten der Kalkspatkristalle. Dass die immer in einer Richtung spalteten!

Wie das sprudelte, wenn man die bekannte Salzsäure auf den Kalkspat kippte! Und wenn ich Kalkmergel in Salzsäure auflöste (also noch ein Leck für die Vorräte meiner Eltern), wurde die Säure gelb, und es blieb immer etwas zurück. Also war Eisen im Spiel. Das Gas, das sich dabei bildete, war sicherlich etwas anderes als das, was beim Auflösen der Metalle entstand, denn es brannte nicht und löschte Flammen. Es war Kohlendioxid. Heute muss man Kohlenstoffdioxid sagen. Klingt irgendwie merkwürdig. Vor allem, wenn die Kinder heute ganz cool sowieso nur von CO2 reden...


Früher war alles elementarer
Da gab es das selbst gemachte Sauerkraut, in der Nachbarschaft die Essigfabrik und dann auch die Kaffeerösterei, die unseren Garten immer dann in weißblaue Rauchwolken hüllte, wenn wir gerade unsere Mittagspause hatten. Nicht zu vergessen die Herstellung von Rüben-Zucker.

Zur Bereitung des Sauerkrauts wurde eine große Schneidemaschine genutzt, die die Kohlköpfe zerkleinerte. Das Kraut füllten wir in zuvor geschwefelte Holzfässer, stampften es fest (nicht barfuss, aber mit Gummistiefeln bewaffnet). Darauf kam ein Holzdeckel, der mit einem dicken Stein beschwert wurde. Nach einigen Wochen wurde die erste Probe gezogen und überzeugte uns – leckeres Sauerkraut war entstanden, das wir als Kinder gerne naschten.

Die Essigfabrik verpestete bei ihrem wöchentlich ein- bis zweimaligen geruchsintensiven Abstich die ganze Gegend – vielleicht der Grund dafür, dass ich den Geruch nach Essig auch heute auf den Tod noch nicht leiden kann.

Wenn der Kaffeeröster nebenan seinen weiß-blauen Dampf abließ, fielen im Garten die Vögel von den Bäumen. Wir waren ob der Belästigung am Seufzen, kauften aber den Kaffee trotzdem bei ihm. Wo denn sonst? Die heute gewohnten, vakuumverpackten oder mit Stickstoffatmosphäre versehenen Nahrungsmittel gab es noch nicht. Sie sind die Folge eines überbordenden Verbraucherschutzes. Letzterer und die damit verbundene Verpackungsflut hat uns aber auch das Umweltproblem „Müll“ eingebracht – das man der Chemie anlastet. Immerhin, an der „Abfallwirtschaft“ verdienen heute viele Menschen. Die einen produzieren den Müll und verdienen dabei. Die anderen verdienen, indem sie den Müll entsorgen. Beides steigert aber schließlich das Bruttosozialprodukt.

Früher haben wir auch Zucker zu Hause selbst gemacht. Dazu wurden einige Zentner Zuckerrüben beim Bauern erstanden. Die Rüben wurden in der Waschküche über Nacht im großen Zuber gekocht und mit einer ausgeliehenen Rübenpresse ausgepresst. Das war für die Erwachsenen echte Knochenarbeit, die ein-zwei Tage samt Nacht dauerte. So lecker Zucker auch ist – aber bei der Herstellung stinkt es erbärmlich. Das ganze Haus roch danach. Aber wir ertrugen das – denn dafür gab es ja leckeren Zucker. Genau genommen war da zuerst der Sirup. Den liebten wir ganz besonders, schmeckte er doch auf frischem Brot köstlich. Der Sirup, der die ersten Tage überlebte, wurde in großen und kleinen braunen Tonkrügen abgefüllt. Heute muss man dafür (erhältlich unter der Bezeichnung „Rübenkraut“) eine Menge Geld zahlen.

Der Sirup war erstaunlich haltbar. Als wir 30 Jahre später das Haus meiner Eltern nach deren Tod ausräumten, fanden wir noch eine Reihe von braunen Tonkrügen – voll von mittlerweile auskristallisiertem braunem Sirupzucker. Und dass dann auch noch ein genießbarer Weihnachtsstollen auftauchte, gehört wohl in das Reich der Legenden über die Kochkunst meiner Mutter.


Medikamente
Medizin wurde viel selbst gemacht. Zur Hustensaftproduktion wurde ein weißer Rettich kunstvoll zerritzt, mit einer unteren Öffnung versehen und mit (damals natürlich noch braunem) Kandiszucker gefüllt. Unten tropfte bald ein hustenstillender Saft heraus. Von dem haben wir auch dann gern genascht, wenn wir gar keinen Husten hatten...

Oder wie oft wir losgingen und Heilpflanzen wie die echte Kamille sammelten. Die war dann irgendwann mal richtig selten geworden. Vitamine? Dazu gab es frisch gepressten Brennnesselsaft, der fürchterlich schmeckte, oder – lecker! - frische junge Schafgarbe aufs Butterbrot. All das war wichtig in einer Zeit, in der es keine Antibiotika gab und das Überleben wirklich gerade für Kinder am seidenen Faden hing. Da waren die gefürchteten „Kindesmörder“ Diphtherie und Scharlach. Was ist, wenn ein Kind heute Scharlach hat? Es wird nicht einmal isoliert. Eine Penicillingabe und es ist ansteckungsfrei. Früher wurden kranke Kinder wie Aussätzige behandelt!


Wie war eigentlich unser Chemie-Unterricht?
Irgendwie erinnerte manches an den Film „Die Feuerzangenbowle“. Wir hatten u. a. einen Chemie-Lehrer, den wir „Hermann Bumm, der Knallgas-Chemiker“ nannten. Dessen Unterricht bestand vorrangig darin, dass er einen mit Wasserstoff oder Knallgas gefüllten Ballon in den Chemiesaal mitbrachte und zündete. Beim Explodieren rieselte sogar der Kalk von der Decke. Denn unsere Räume waren früher genauso heruntergekommen wie manche Schulräume heute.


Was können Sie als Eltern tun?
Es gibt viele chemische Experimente, die Sie zu Hause durchführen können. Eine Übersicht finden Sie zum Beispiel hier Chemie für Grundschule und Chemie-Eingangsunterricht. Da gibt es z. B. das Rezept zum Schwefelschmelzen. Oder zum Kristallisieren von Alaun.

Wie weit soll man die Experimente erklären? Das ist eine Frage des Alters und der Nachfrage. Was mich betrifft, hatte ich zu Beginn meiner Experimentier-Tätigkeit überhaupt nicht das Bedürfnis, über Ursachen nachzudenken. Ich erfreute mich nur an den Phänomenen. Das sollte man sich merken, falls man versuchen sollte, Kindern chemisches Wissen einzutrichtern. Erfahrungsgemäß wollen die Kids zunächst das eine oder andere gar nicht begründet haben, sondern sich nur am Geschehen erfreuen.

Was ist dann der Lerneffekt? Meine Antwort: Lassen Sie die Kinder erzählen, was sie gesehen haben - aber das genau. Gute Beobachtung und gute Beschreibung sind die Grundlagen guter wissenschaftlicher Arbeit. Achten Sie dabei darauf, dass die Kinder auf den Punkt kommen. Später kommt die Neugierde am Theoretischen, am Hintergrund schon von selbst.

Noch ein Tipp: Lassen Sie keine Mineralienbörse aus, wenn Sie Ihre Kinder an die Naturwissenschaften heran führen wollen!


Last but not least
Es muss nicht nur Chemie sein, sondern man sollte auch Themen aus der Biologie oder Physik auswählen. Denken Sie fächerübergreifend! So kann man selber Usambara-Veilchen züchten, indem man deren Blätter in ein Glas mit Wasser und ins Helle stellt: Dann bilden sie bereits nach ein-zwei Wochen Wurzeln. Eingetopft in gute Erde hat man nach zwei-drei Monaten schöne Blüten.


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Letzte Überarbeitung: 31. Oktober 2020, Fritz Meiners