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Tipp des Monats Januar 2021 (Tipp-Nr. 283)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Wasser kann mehr als nur Chemie - der hydraulische Widder

Uwe Lüttgens

Auf einer wunderschönen Herbstwanderung in Franken führte mich der Weg durch das Leidingshofer Tal. Im Wanderführer wird der Weg so beschrieben: „In einem grünen Wiesenboden vor einer eindrucksvollen Felswand steht eine kleine Unterstandshütte – und wenige Meter unterhalb, nicht zu überhören, ein hydraulischer Widder“. [1a] Im Kletterführer der Fränkischen Schweiz heißt es: „Das Gebiet ist sehr ruhig und idyllisch gelegen, wäre da nicht der hydraulische Widder...“ [1b]

Bild 1: Das Leidingshofer Tal im Herzen der Fränkischen Schweiz.
(Foto: Lüttgens)

Den vielleicht an der Flora interessierten Wanderinnen wird leider nicht näher mitgeteilt, ob der „Widder“ dort frei herumläuft und welche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen seien, um der Gefahr durch das männliche Schaf zu entgehen. Geschichtlich bewanderte bildungsbürgerliche Gruppen mögen sich hingegen fragen: Warum kann man den Rammbock hören? Und was macht dieses im Mittelalter zur Durchbrechung von Burgmauern gebräuchliche Kriegsgerät im malerischen Leidingshofer Tal?

Bild 2: An diesem Rammbock fehlt leider der Kopf eines Widders.
(Foto: Lüttgens)

Eher technisch interessierte Wandergesellen bemerken hingegen, dass der hydraulische Widder etwas mit Technik, genauer: mit Hydraulik, zu tun haben muss.

Ich habe mich bei dieser sehr empfehlenswerten Wanderung auch gefragt: Wo kommen die Geräusche her, die man immer deutlicher wahrnimmt, je näher man sich dem Wiesenboden nähert? Und wie funktioniert das technische Gerät mit dem seltsamen Namen genau? Befassen wir uns also zur Abwechslung im Tipp des Monats einmal mit ein wenig Physik.


Der hydraulische Widder – Wasser, das sich selbst in die Höhe pumpt
Von 1875 bis 1960 war die durch Druckstöße betriebene Wasserpumpe mit dem seltsamen Namen für die Wasserversorgung des Ortes Leidingshof verantwortlich. Das Wasser wurde damals mit dem auch als Stoßheber bezeichneten Widder vom durch das Tal fließenden Mathelbach in das höher gelegene Dorf gepumpt – damals eine einfache und kostengünstige Variante, bei der keinerlei Elektrizität notwendig war [1c]. Seit die Pumpe 1975 wieder in Betrieb genommen wurde, dient sie der Speisung des kleinen Brunnens, der sich neben einer Schutzhütte in der Nähe befindet.

Bild 3: Der hydraulische Widder im Leidingshofer Tal wird vom Mathelbach gespeist.
(Foto: Lüttgens)


Aufbau und Wirkungsweise des Stoßhebers
Zuerst einmal klären wir den Begriff Hydraulik. Er leitet sich ab aus den altgriechischen Worten hýdor für Wasser und aulós für das Rohr. Man kann also erwarten, dass im Tal eine Quelle entspringt oder ein Bach verläuft, in dessen Verlauf sich ein Rohr befindet, dass zur Wasserpumpe führt. Als weitere Voraussetzung für den Betrieb dieser einfachen Wasserpumpe muss neben diesem kontinuierlichen Zufluss der Abfluss des Wassers gewährleistet sein.

Video: Gut zu hören sind die Stoßgeräusche des periodisch arbeitenden hydraulischen Widders im Leidingshofer Tal. Gespeist wird der Stoßheber über einen 4 m höher gelegenen Triebschacht (vorne im Bild), über den das Wasser der Mathelbachquelle in die Triebleitung abgezweigt wird. Gut zu erkennen ist das Öffnen und Schließen des Stoßventils links neben dem glockenförmigen Windkessel.
(Video: Lüttgens)


Wie ist nun ein hydraulischer Widder aufgebaut?
Die Pumpe besteht aus nur wenigen Bauteilen. Dies macht die mechanische Wasserpumpe sehr robust und langlebig, weil nur wenig kaputtgehen kann. Nur zwei Bauteile sind beweglich: Das Druckventil und das Stoßventil, dessen periodisches Öffnen und Schließen die typischen rhythmischen Geräusche erzeugt. Das kann man in dem kurzen Video nicht nur sehen, sondern auch deutlich hören. Seinen Namen soll der hydraulische Widder übrigens von diesen stoßartigen Geräuschen bekommen haben, die die einfache Pumpe regelmäßig von sich gibt. Sie sollen an „die Stöße von Widdern“ erinnern [2].

Bild 4: Das Stoßventil, auch als Sperrventil bezeichnet, öffnet (li.) und schließt (re.) sich periodisch.
(Foto: Lüttgens)

Mit Wasser gespeist wird der Stoßheber über eine Triebleitung, die Wasser aus dem Quellbach abzweigt. Der Strömungsdruck des Wassers sorgt dafür, dass sich das Stoßventil schließt. Nun kann das Wasser dort nicht mehr ausströmen – der Wasserfluss kommt zum Stillstand. So wird eine Druckwelle – ein Stoß – innerhalb des Widders erzeugt, der ein Druckventil öffnet. Das Ventil, das aus einer einfachen Klappe aus Leder besteht, befindet sich genau unter dem Windkessel. Dieser auf dem Bild gut zu erkennende birnenförmige Kessel wird also stoßweise mit Wasser befüllt. Zurück gelangt das Wasser nicht mehr, wenn es einmal in den Kessel eingeströmt ist; das „Lederklappen“-Ventil schließt sich ja wieder, wenn der Druck aus der Triebleitung nachlässt. Erneut öffnet sich das Stoßventil, das auch als Sperrventil bezeichnet wird. Dafür sorgt allein die Schwerkraft. Zur Unterstützung ist am Schaft des Ventils ein passendes Gewicht angebracht.

Skizze: Der hydraulische Widder im Schnittbild
(Zeichnung: Lüttgens)


Für Spezialisten: Das Stoß- oder Sperrventil
Wie wird nun genau die Energie des Wassers genutzt? Schauen wir uns dazu die Wirkungskette etwas genauer an. Beginnen wir mit dem Sperrventil: Der Durchfluss erhöht sich am schmalen Spalt, an dem das Wasser am Stoßventil austritt. Ein Beispiel dazu, das wir alle kenne: Bei einem Gartenschlauch, dessen Öffnung mit dem Daumen teilweise zugehalten wird, erkennen wir, dass der Wasserstrahl deutlich schneller aus dem Schlauch spritzt, wenn der Querschnitt verringert wird. Anders ausgedrückt: Wird die Querschnittsfläche der Strömung kleiner, nimmt die Strömungsgeschwindigkeit zu. Dieser Sachverhalt, der für alle sogenannten idealen Flüssigkeiten gilt, kann in der sogenannten Kontinuitätsgleichung ausgedrückt werden:

A1 · v1 = A2 · v2    Kontinuitätsgleichung

Ist die Querschnittsfläche A2 kleiner als die Fläche A1, dann muss die Fließgeschwindigkeit v2 der Flüssigkeit umgekehrt proportional zunehmen, damit die Gleichung erfüllt ist.

Ist der Spalt am Sperrventil richtig eingestellt, strömt das Wasser dort erheblich schneller im Vergleich zur Triebleitung. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Der Druck des Wassers nimmt dort ab. Dazu lässt sich ein kleines Modellexperiment [3] durchführen, bei dem der Effekt durch strömede Luft hervorgerufen wird.


Versuch

Lege einen Wattebausch unter die breite Öffnung eines Trichters. Die breite Öffnung zeigt so zum Tisch, dass nur ein schmaler Spalt zwischen der breiten Öffnung und der Tischplatte bleibt. Puste nun kräftig durch den schmalen Trichterstutzen und beobachte, was mit dem Wattebausch passiert. Der Wattebausch wird in die Mitte der breiten Trichteröffnung gesaugt.

Erklären lässt sich das überraschende Verhalten des Wattebauschs in dem Modellexperiment so: Die Luft strömt im schmalen Stutzen des Trichters schneller als an der breiten Trichteröffnung (Kontinuitätsgleichung). Dort muss der Druck also niedriger sein als zwischen Tischkante und der breiten Öffnung des Trichters. Sonst müssten wir den Wattebausch von dort wegblasen können – und nicht ansaugen. Je kräftiger wir jedoch pusten, desto stärker wird der Wattebausch in den Trichter gesogen. Erklären kann das nur ein Druckunterschied zwischen der Luft im schmalen Stutzen des Trichters und der Luft, die sich um den Wattebausch herum befindet. Sie erzeugt den Sog, der zum überraschenden Effekt führt.

Die Bernoulli-Gleichung bringt den physikalischen Sachverhalt zum Ausdruck: Mit zunehmender Geschwindigkeit einer Flüssigkeit verringert sich der Druck dort.

p1 + ½ ρv12 = p2 + ½ ρv22    Bernoulli-Gleichung

Wir erkennen: Ist die Geschwindigkeit v1 höher als v2, muss der Druck p1 entsprechend niedriger sein als p2, damit die Gleichung erfüllt ist. ρ ist die Dichte der Flüssigkeit. Durch die Druckdifferenz δp resultiert eine entsprechende Kraft F:

F = δp · A

Nun zurück zum Sperrventil. Ist diese durch die schnelle Strömung erzeugte Kraft größer als die Gewichtskraft der Masse am Schaft des Ventils, fällt das Ventil von selbst gegen die Kraft des Gewichts zu. Und die Strömung im hydraulischen Widder wird abrupt gestoppt. Das geschieht schlagartig, weil sich die Fließgeschwindigkeit rasch ändert. Durch den Unterdruck des nun ruhenden Wassers wird das Stoßventil erneut geöffnet. Nun läuft der Zyklus wieder von vorne ab. Die periodische Wiederholung des Pumpvorgangs läuft typischerweise mit Frequenzen von ca. 1 bis 2 Hertz ab.


Zu guter Letzt ...
Daniel Bernoulli (1700 - 1782), ein Schweizer Mathematiker und Physiker, startete seine universitäre Ausbildung an der medizinischen Fakultät in Basel im zarten Alter von 16 Jahren und promovierte dort über die Physik der Atmung. Der Dr. med. bekleidete erst 1750 als Professor den Lehrstuhl für Physik.

Den hydraulischen Widder entwickelt hat der Franzose Joseph Michel Montgolfier (1740 - 1810), der gemeinsam mit seinem Bruder Jacques Étienne den Heißluftballon erfunden hat. Er ersetzte an der sogenannten Pulsationsmaschine (Pulsation Engine), einer einfachen mechanischen Pumpe, die 1772 von John Whitehurst, einem englischen Uhrmacher und Instrumentenbauer, entwickelt wurde, den sich wiederholt öffnenden Wasserhahn durch das Stoßventil, das sich, wie wir jetzt gelernt haben, selbständig öffnet und schließt. Ein einfaches Bauteil, mit dem sich das Wasser selbst in die Höhe pumpen kann. Einfach und genial!


Literatur:
[1a] Stefan Herbke; Wandern und Einkehren - Fränkische Schweiz; Rother Wanderführer; 1. Aufl. 2019
[1b] Eintrag auf frankenjura.com zur Leidingshofer Kletterwand; https://www.frankenjura.com/klettern/poi/264 (zuletzt abgerufen am 14.11.20)
[1c] Wandern durch das Leidingshofer Tal; https://www.frankenlandler.com/2020/06/14/wandern-durch-das-leidingshofer-tal/ (zuletzt abgerufen am 14.11.2020)
[2] Mathias Döring 2500 Jahre Energie aus Wasser, Mitteilungen des Lehrstuhls für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen, Heft 167, Shaker Verlag, Aachen, 2013 (zitiert nach einem Wikipedia-Eintrag zum Hydraulischer Widder https://de.wikipedia.org/wiki/Hydraulischer_Widder und zuletzt abgerufen am 14.11.2020)
[3] Experiment 3.41 Ein saugender Blasetrichter; in: Physikalische Freihandexperimente, Band 1, S. 448 f, Aulis Verlag, 3. Aufl. 1998.


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Letzte Überarbeitung: 31. Dezember 2020, Fritz Meiners