Wenn die Reepschnur reißt und die Bandschlinge schmilzt... Uwe Lüttgens
Alle, die im Elbsandsteingebirge klettern wollen, wissen sicherlich, dass es in der sächsischen Schweiz besondere Regeln für Kletterbegeisterte gibt. Eine davon ist das Verbot von Sicherungen aus Metall. Dazu gehören, wie alle alpinen Kletterer wissen, in festem Fels Klemmkeile und Friends. Und Magnesia, eine Mischung aus Magnesiumcarbonat, Magnesiumoxid und Magnesiumhydroxid, um vor Angst feucht zu werdende Hände trocken zu halten. Das darf leider auch nicht im Elbi, wie dieses faszinierende sächsische Klettergebiet liebevoll von seinen Anhängerinnen genannt wird, verwendet werden – es zerstört den empfindlichen Sandstein. Daher gilt: Erlaubt zur Sicherung sind nur Seile, Bandschlingen, Reepschnüre aus Textil. Du merkst schon: Nicht nur das Klettern, auch das Sichern ist im Elbsandsteingebirge sehr anspruchsvoll. Eingeschlagene oder eingeklebte Ringe zur Sicherung finden sich im Elbsandsteingebirge häufig erst in einer Höhe von 10, 12 oder 15 Metern. Vorher muss alles an Zwischensicherungen selbst gelegt werden - mit besagten Schlingen und Reepschnüren. Entsprechend beeindruckend sieht das „Gelumps“ aus, das am Gurt eines Kletterers baumelt. Bild 1: Die am Klettergurt baumelnde Ausrüstung besteht aus Reepschnüre und Schlingen. Damit können vom vorsteigenden Kletterer geeignete Sicherungspunkte „gelegt“ werden.
Nun wollen wir zwei Unfälle betrachten. Ein wenig Physik und Chemie kann uns helfen zu verstehen, warum diese passierten, fast könnte man sagen, passieren mussten. Die Reepschnur hatte eine Dicke von 5 Millimetern; das sollte ohne Probleme auch für schwerere Personen reichen. Jedoch machte der Kletterer einen folgenschweren Fehler: Er kletterte am Stand ein bisschen herum, dabei brach ein Tritt aus und der Kletterer rutschte ab. Er fiel in die schlaffe Reepschnur, die spannte sich – und riss. Die Bruchlast der Reepschnur war überschritten. Die Folgen des Absturzes waren ein zertrümmertes Fersenbein und drei angebrochene Wirbel. Glück im Unglück hatte der Pechvogel trotzdem. Denn üblicherweise sind Sicherungsringe, an denen man im Elbi Stand machen kann, deutlich höher angebracht. Bild 2: Reepschnüre können aus Nylon (oben), Kevlar (Mitte) und Dyneema (unten). Kevlar und Dyneema sind Markennamen.
Eine Reepschnur ist im Prinzip ein schlankes Seil mit einem Durchmesser von wenigen Millimetern. Dessen Kern besteht aus einer Kunstfaser, meist Nylon. Umgeben ist der aus mehreren Litzen aufgebaute Kern von einem Mantel, der nicht nur den Kern vor ultravioletter Strahlung, Schmutz und mechanischer Belastung schützen soll, sondern auch die Bruchlast erhöht. Eine Reepschur soll schließlich nicht reißen, sonst geht´s uns wie den Unfallkletterern. Übrigens: Der Begriff Reep bedeutet in der Seemannssprache Seil oder Tau. In der Reeper- oder Reepschlägerbahn – bekanntestes Beispiel ist die Hamburger Reeperbahn – wurden früher die mehrere 100 Meter langen Taue für Schiffstakelagen aus einzelnen, dünneren Strängen, den Reepen hergestellt. Der Reepschläger spannte diese und verdrillte sie zu dickeren Tautrossen.
Betrachten wir nochmals die Reepschnur aus dem geschilderten Unfall. Die vorgeschriebene Bruchlast von 5 kN entspricht bei statischer Belastung einer Masse von ungefähr 500 kg – reicht also völlig aus, wenn man sich bei gespannter Reepschnur in den Stand setzt oder hängt. Nur stürzen sollte man keinesfalls in eine solche Reepschnur. Warum nicht? Weil der Bremsweg die beim Sturz auftretende Kraft bestimmt [2]: Dazu eine kleine Abschätzung: Bei einem „Sturz“ aus 1 m Höhe in eine Reepschnur, die sich kaum dehnt, kann insgesamt für die Dehnung von Gurt, Reebschnur und dem Körper des Kletterers von vielleicht 10 cm ausgegangen werden. Dann berechnet sich folgende Sturzenergie: Damit errechnet sich die auf die Reepschnur, den Gurt und den Körper des Kletterers einwirkende Kraft mit hSturz = 10 cm zu: Zur Erinnerung: Die Bruchlast der 5 mm dicken Reepschnur beträgt 5 kN – die unweigerliche Folge ist der Riss der Reepschnur. Bild 3: Das kann tödlich enden, wenn beim Ablassen eines Kletterers das Kletterseil durch eine am Bohrhaken eingefädelte Reepschnur oder Schlinge läuft. Der rote Pfeil kennzeichnet die Bewegung des Seils in der Schlinge während des Ablassens. Erwärmt sich die Reepschnur zu stark, wird sie schmelzen und schließlich reißen. Der Kletterer stürzt ab.
Jetzt wird´s interessant: Da also beim Toprope-Klettern der Kletterer vom von unten sichernden Partner wieder kontrolliert heruntergelassen werden muss, läuft nun das Kletterseil durch einen Karabiner oder – wie in unserem Fall – durch eine Bandschlinge. Und die wird durch die ständige Reibung des Seils ziemlich warm. In diesem tragischen Fall, bei dem die Kraft auf die Schlinge beim Ablassen durch das Gewicht des Kletterers bis zu 2 kN betragen kann, sogar so warm, dass sie langsam durchschmilzt und schließlich reißt. Dieses Schmelzverbrennung der Bandschlinge hatte im geschildeten Unfall fatale Folgen: Beim Absturz riss der Kletterer seinen sichernden Kameraden mit in die Tiefe – beide konnten 150 m tiefer nur noch tot geborgen werden. [3] Bild 4: Eine Reepschnur aus Nylon
Bild 5: Chemisch wird Nylon als Polyamid 6.6 bezeichnet (Strukturformelausschnitt und Kugel-Stab-Modell)
Bild 6: Chemisch wird Nylon als Polyamid 6.6 bezeichnet (Strukturformelausschnitt und Kugel-Stab-Modell)
Betrachten wir den Aufbau eines Nylonfadens noch genauer: Zwischen den langen Polyamid-Molekülfäden kommt es zu Wechselwirkungen, so dass sie sich parallel zueinander ausrichten. Das sind zum einen van-der-Waals-Wechselwirkungen, die entlang der unpolaren Abschnitte der Kohlenstoffkette wirken. Auch wenn diese sehr schwach im Vergleich zu echten chemischen Bindungen sind, sorgen sie allein aufgrund der puren Länge der Polymerfäden doch für eine nicht zu vernachlässigende Anziehungskraft. Bild 7: Zwischen den Aminogruppen -NH und den Carbonylgruppen -CO der Amid-Bindungen zweier Molekülfäden können sich starke Wasserstoffbrückenbindungen (roter Pfeil) ausbilden.
Hinzu kommen die wesentlich stärkeren Wasserstoffbrückenbindungen, die sich zwischen den negativ polarisierten Sauerstoffatomen der Carbonylgruppe -CO in einer Amidbindung -CONH- und den Wasserstoffatomen der Aminogruppe -NH, die positiv polarisiert sind, ausbilden. Diese sind so stark, dass sich die langen Molekülfäden ausrichten und in kristallinen Bereichen zusammenfinden, sich also zueinander parallel anordnen. Bild 8: Die Makromoleküle können sich unterschiedlich anordnen: In den kristallinen Bereichen sind die Makromoleküle regelmäßig angeordnet; ungeordnet und sind hingegen die amorphen Bereiche.
Wird ein solcher Polymerfaden verstreckt, also auseinandergezogen, wird er länger und länger. Dabei richten sich große Bereiche parallel aus. Die starken Wechselwirkungen, die durch die hinzugewonnenen Wechselwirkungen und Bindungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Molekülfäden herrschen, sorgen für eine sehr hohe Zugfestigkeit des Kunststoffes – ein ganz wesentlicher Aspekt für den Einsatz in Kletterseilen, Reepschnüren und Bandschlingen. Und wie kam es nun zum Absturz? Der Kunststoff, also die Bandschlinge aus unserem Unfallbeispiel, wird warm und wärmer, während das Kletterseil daran ständig reibt. Die Molekülfäden fangen an sich zunehmend zu bewegen. Denn die thermische Energie überwindet die zwischenmolekularen Wechselwirkungen. Nimmt die Eigenbewegung weiter zu, beginnt der Kunststoff zu erweichen. Wir wissen auch warum: Die Molekülfäden lassen sich zunehmend gegeneinander verschieben. Sie „flutschen“ aneinander vorbei, wie Spagetti, die vorher in Öl getunkt wurden. Die Folge: Die Nylon-Bandschlinge beginnt zu schmelzen und reißt. Es kommt, was kommen muss: Ein Absturz, der gar nicht so selten passiert.
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