Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie


Tipp des Monats Dezember 2023 (Tipp-Nr. 318)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Strategien von Forschungsleugner*innen identifizieren lernen

Dennis Dietz

Ob nun die Ablehnung des menschlichen Einflusses auf den Klimawandel oder die irrationale Kritik an erprobten Impfstoffen, wie bspw. dem Impfstoff gegen Mumps, Masern und Röteln – das Internet ist voll von Desinformationen rund um naturwissenschaftliche Sachverhalte. Die Unterscheidung von Desinformationen und Informationen fällt jedoch nicht immer leicht. Laut einer Studie der Vodafone-Stiftung fühlen sich nur wenige deutsche Jugendliche kompetent, mit Desinformationen im Internet umzugehen [1]. In Anbetracht der gesellschaftlichen Folgen ist es eine bedeutsame Aufgabe des naturwissenschaftlichen Unterrichts, den Schüler*innen Kompetenzen im Umgang mit Desinformationen zu vermitteln. Dies spiegelt sich auch in den Bildungsstandards des Unterrichtsfachs Chemie für die Allgemeine Hochschulreife wider. Hier heißt es bspw. im Bereich der Bewertungskompetenz, dass die Lernenden „die Inhalte verwendeter Quellen und Medien (z. B. anhand der fachlichen Richtigkeit und Vertrauenswürdigkeit [beurteilen]“ können sollen [2, S. 18]. In diesem Monatstipp möchte ich Ihnen Anregungen dazu geben, wie Schüler*innen Kompetenzen im Umgang mit Desinformationen im Chemieunterricht erwerben können.


Das FLICC-Modell von John Cook
Ein beliebtes Mittel der Desinformation stellt das Infragestellen oder die Falschdarstellung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erkenntnismethoden – die Forschungsleugnung – dar. Der australische Wissenschaftler John Cook hat sich im Kontext der Klimawandeldebatte intensiv mit Strategien von Forschungsleugner*innen auseinandergesetzt [3]. In Anlehnung an Mark Hoofnagle [4] hat Cook das FLICC-Modell entwickelt, das fünf zentrale Strategien der Forschungsleugnung beschreibt (u.a. [3, S. 211 ff]., s. Tab. 1).

Buchstabe Bedeutung (englisch) Bedeutung (deutsch)
F fake-experts Pseudo-Expert*innen
L logical fallacies Logische Trugschlüsse
I impossible expectations Unerfüllbare Erwartungen
C cherry picking Rosinenpicken
C conspiracy theories Verschwörungstheorien

Tabelle 1: Das FLICC-Modell von John Cook [3, S. 211 f.]

Forschungsleugner*innen ziehen für ihre Argumentation häufig Aussagen von Expert*innen heran, die ihre Expertise nicht auf dem Gebiet des Diskussions­gegenstands besitzen [3]. Eine zweite Strategie der Forschungsleugnung besteht darin, logische Trugschlüsse zu erzeugen [3]. Jede Schlussfolgerung geht von Prämissen aus. Ein logischer Trugschluss wird bspw. dann formuliert, wenn die Prämissen falsch oder irrelevant für die Schlussfolgerung sind [3, S. 211]. Das Formulieren unerfüllbarer Erwartungen stellt eine dritte Strategie der Forschungsleugnung dar [3]. Darunter versteht man unrealistische Anforderungen an die naturwissenschaftlich (experimentelle) Beweisführung ebenso wie die absichtliche Missinterpretation des Umgangs von Forscher*innen mit der Unsicherheit experimenteller Erkenntnisse [3, S. 211]. Eine vierte Strategie zur Forschungsleugnung ist das Rosinenpicken [3]. Rosinenpicken meint das „selektive Auswählen von Daten, das zu einer gewünschten Schlussfolgerung führt, die sich von der Schlussfolgerung, die sich aus allen verfügbaren Daten ergibt, unterscheidet“ [3, S. 211, übers. d. A.]. Das Formulieren von Verschwörungserzählungen ist die fünfte Strategie im FLICC-Modell [3]. Verschwörungserzählungen sind i. d. R. daran zu erkennen, dass eine kleine Minderheit aus üblen Absichten heraus, einen Plan verfolgt, der der Mehrheit Schaden zufügt.


Unterrichten des FLICC-Modells zur Förderung von Kompetenzen bzgl. des Umgangs mit Desinformationen
Das Unterrichten des FLICC-Modells im Kontext von naturwissenschaftlichen Sachverhalten stellt nach der „inoculation theory“ eine vielversprechende Möglichkeit dafür dar, die Schüler*innen im Umgang mit Desinformationen zu schulen [3]. Die „inoculation theory“ (zu deutsch: Impftheorie) beschreibt die Möglichkeit, Kompetenzen im Umgang mit Desinformationen dadurch zu fördern, dass man Lernende nach einer entsprechenden Vorwarnung mit einer schwachen Form von Desinformation konfrontiert und ihnen danach erklärt, weshalb es sich um eine Desinformation handelt [3, S. 213]. Verschiedene Forschungsarbeiten belegen den grundsätzlichen Erfolg dieses Vorgehens im Zusammenhang mit dem Bewerten von Desinformationen rund um den menschenverursachten Klimawandel [u.a. 5, 6].


Mein Vorschlag: Schüler*innen aktiv Strategien des FLICC-Modells praktizieren lassen, um sie für Forschungsleugnung im Internet zu sensibilisieren
Wenn bereits die exemplarische Konfrontation mit Strategien der Forschungsleugnung zu einer Kompetenzförderung im Umgang mit Desinformationen führen kann [u.a. 5, 6], dann sollte die aktive Anwendung dieser Strategien im Sinne der konstruktivistischen Lerntheorie erst recht wünschenswerte Effekte auf eine Kompetenzentwicklung von Schüler*innen haben. Der Chemieunterricht bietet zahlreiche Sachverhalte, anhand derer die Strategien des FLICC-Modells eingeführt und praktiziert werden können. Eine Möglichkeit stellt die „Chemtrails“ – Verschwörung dar, die seit Ende der 1990er Jahre im Internet kursiert [7]. Der Kunstbegriff „Chemtrails“ setzt sich aus „chemicals“ (zu deutsch: Chemikalien) und „contrails“ (zu deutsch: Kondensstreifen) zusammen [7]. Anhänger*innen dieser Verschwörungserzählung gehen davon aus, dass über Flugzeuge Chemikalien (i.d.R. Aluminium- und Bariumsalze) in der Atmosphäre verbreitet werden, die wahlweise eingesetzt werden, um a) das Bevölkerungswachstum zu minimieren, b) Saatgut auf Feldern unbrauchbar zu machen oder c) den Klimawandel als Maßnahme des Geoengineering zu verringern [7]. Nach einer kurzen theoretischen Einführung in den Kontext „Chemtrails“ können Schüler*innen aufgefordert werden, aktiv beispielhafte Aussagen über „Chemtrails“ nach dem FLICC-Modell zu konstruieren. Mögliche Schüler*innen-Aussagen sind in der Tabelle 2 dargestellt.

Strategie zur Forschungsleugnung mögliches Beispiel von Schülerinnen und Schülern
Pseudo-Expert*innen „Dr. Paukovics – u.a. Berufspilot und Polizeiarzt – hat in den letzten Jahrzehnten sehr viele Veränderungen im Luftraum wahrgenommen, bspw. die Veränderung der Kondensstreifen und unerwartete Sichteinschränkungen. Darin sieht er eindeutige Beweise für die Existenz von Chemtrails.“
logische Trugschlüsse „Es gibt Substanzen, wie z.B. Drogen, die die Psyche des Menschen beeinflussen können. Also werden wir auch alle durch Chemtrails beeinflusst.“
unerfüllbare Erwartungen „Wissenschaftler*innen können Alkohol nur einige Stunden im Blut nachweisen. Wie sollen Wissenschaftler*innen dann beeinflussende Substanzen von Chemtrails im Blut nachweisen können?“
Rosinenpicken „In Russland hat man nachweislich bereits Wolken mit Silberiodid geimpft, damit diese abregnen, um bei Militärparaden ein schönes Wetter sicherzustellen. Das beweist ja wohl, dass wir durch Chemtrails manipuliert werden.“
Verschwörungstheorie „Die Eliten wollen uns mit Chemtrails unkritisch machen, damit wir widerspruchslos unserer Niedriglohnarbeit nachkommen.“

Tabelle 2: Beispielhafte Aussagen zu „Chemtrails“ – kategorisiert nach den fünf Strategien zur Forschungsleugnung im FLICC-Modell von John Cook [3]


Fazit
Das erfolgreiche Unterrichten von Schüler*innen im Umgang mit Desinformationen stellt eine zentrale Bildungsaufgabe der heutigen Zeit dar. Dieser Verantwortung muss sich auch der naturwissenschaftliche Unterricht stellen. Das Unterrichten von Strategien zur Forschungsleugnung nach dem FLICC-Modell von John Cook [3] liefert in diesem Zusammenhang einen ebenso spannenden wie vielversprechenden Ansatz. Ob nun der Kontext „Chemtrails“ im Chemieunterricht, der Kontext „Impfen“ im Biologieunterricht oder der Kontext „Flacherdler“ im Physikunterricht – an Beispielen für Desinformationen zu naturwissenschaftlichen Sachverhalten mangelt es im Internet wahrlich nicht. Damit bieten sich ausreichend Möglichkeiten im naturwissenschaftlichen Unterricht, Strategien zur Forschungsleugnung zu unterrichten. In aktuellen Forschungsarbeiten untersuchen wir in der AG Chemiedidaktik an der Freien Universität zurzeit, inwieweit sich das vielversprechende Potenzial des hier vorgeschlagenen Vorgehens der aktiven Anwendung der Strategien des FLICC-Modells auch empirisch belegen lässt. Wenn Sie Interesse daran haben, sich an unseren aktuellen Studien zu beteiligen, indem Sie bspw. diesen Ansatz ausprobieren wollen, dann melden Sie sich gerne bei mir unter dennis.dietz@fu-berlin.de.


Literatur:
[1] Paus, I., & Börsch-Supan, J. (2020). Die Jugend in der Infodemie: Eine repräsentative Befragung zum Umgang junger Menschen in Deutschland mit Falschnachrichten während der Coronakrise. Vodafone Stiftung Studie. https://www.vodafone-stiftung.de/desinformation-jugend-coronakrise/, letzter Zugriff: 26.11.23
[2] KMK: Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2020). Bildungsstandards im Fach Chemie für die Allgemeine Hochschulreife. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2020/2020_06_18-BildungsstandardsAHR_Chemie.pdf, letzter Zugriff: 26.11.23
[3] Cook, J. (2017). Understanding and countering climate science denial. Journal Proceedings of the Royal Society of New South Wales, 150(2), 207-219.
[4] Hoofnagle, M. (2007, April 30). Hello Scienceblogs. Denialism Blog. Retrieved from http://scienceblogs.com/denialism/about/, letzter Zugriff: 26.11.23
[5] Cook, J., Lewandowsky, S., & Ecker, U. (2017). Neutralizing misinformation through inoculation: Exposing misleading argumentation techniques reduces their influence. PLOS ONE, 12(5): e0175799.
[6] Van der Linden, S., Leiserowitz, A., Rosenthal, S., & Maibach, E. (2017). Inoculating the public against misinformation about climate change. Global Challenges, 1(2).
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Chemtrail, letzter Zugriff: 26.11.23


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Letzte Überarbeitung: 5. Dezember 2023, Fritz Franzke