Wöhler an Berzelius:
Berlin 22ten Febr. 1828
Lieber Herr Professor!
Obgleich ich sicher hoffe, dass mein Brief vom 22. Jan. und das Postscript vom 2ten Februar
bey Ihnen angelangt sind, und ich täglich oder vielmehr stündlich in der gespannten
Hoffnung lebe, einen Brief von Ihnen zu erhalten, so will ich ihn doch nicht abwarten, sondern
schon wieder schreiben, denn ich kann, so zu sagen, mein chemisches Wasser nicht halten und muss
Ihnen sagen, dass ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Tier,
sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben. Das cyansaure Ammoniak ist
Harnstoff.(...)-
Vielleicht erinnern Sie sich noch der Versuche, die ich in der glücklichen Zeit, als ich
noch bei Ihnen arbeitete, anstellte, wo ich fand, dass immer, wenn man Cyansäure mit Ammoniak
zu verbinden sucht, eine krystallisirte Substanz entsteht, die sich indifferent verhielt und weder
auf Cyansäure noch Ammoniak reagirte. Beim Durchblättern meines Journals fiel mir dies
wieder auf, und ich hielt es für möglich, dass durch die Vereinigung von Cyansäure
mit Ammoniak die Elemente, zwar in derselben Proportion, aber auf eine andere Art zusammentreten
könnten und hierbey vielleicht z. B. eine vegetabilische Salzbase oder etwas Ähnliches
gebildet werden könne. Ich machte mir dies daher zum Gegenstand einer, für meine
beschränkte Zeit passenden, kleinen Untersuchung, mit der ich sehr geschwind fertig war,
da ich, Gott sey Dank, nur einen einzigen Wägungsversuch zu machen hatte. - Das vermeintliche
cyansaure Ammoniak erhielt ich sehr leicht durch Behandlung von cyansaurem Bley mit kaustischem
Ammoniak. Man erhält es auch mit cyansaurem Silber und Salmiak. Ich bekam es in Menge
schön krystallisirt und zwar in klaren, rechtwinklig 4seitigen Säulen. Mit Säuren
entwickelte es keine Kohlensäure oder Cyansäure und mit Kali keine Spur von Ammoniak.
Aber mit Salpetersäure gab es eine in glänzenden Blättern leicht xtallisirende
(kristallisierende) Verbindung, mit sehr sauren Charakteren, die ich schon für eine
neue Säure zu halten geneigt war, da sie beym Erhitzen keine Salpeter- oder salpetrichte
Säure, sondern viel Ammoniak entwickelte -, als ich fand, dass sie beym Sättigen mit
Basen salpetersaure Salze und das ursprüngliche sogenannte cyansaure Ammoniak wieder gab,
das sich durch Alkohol ausziehen ließ. Nun war ich au fait, und es bedurfte nun
weiter Nichts als einer vergleichenden Untersuchung mit Pisse-Harnstoff, den ich in jeder Hinsicht
selbst gemacht hatte, und dem Cyan-Harnstoff. Wenn nun, wie ich nicht anders sehen konnte, bey
der Zersetzung von cyansaurem Blei durch Ammoniak kein anderes Product als Harnstoff, entstanden
war, so musste endlich, zur völligen Bestätigung dieser paradoxen Geschichte, der
Pisse-Harnstoff genau dieselbe Zusammensetzung haben, wie das cyansaure Ammoniak. (...) Dies
wäre also ein unbestreitbares Beispiel, dass zwei ganz verschiedene Körper dieselbe
Proportion von denselben Elementen enthalten können, und dass nur die ungleiche Art der
Vereinigung die Verschiedenartigkeit in den Eigenschaften hervorbringt. lch will hiermit sagen,
dass bey dieser Art von Aufeinanderwirken von Cyansäure und Ammoniak Harnstoff entsteht,
dass es aber eine andere Art geben kann (wie z. B. wenn es möglich wäre, directe
Verbindung von Cyansäure und Ammoniak), wodurch wirkliches cyansaures Ammoniak entsteht,
woraus sich wieder Base und Säure abscheiden lassen. Dies wäre dann auch eine
Bestätigung von Gay-Lussac's Ansicht von der Cyansäure und Knallsäure1),
von Faraday's 2 Kohlenwasserstoff-Arten2). Aus diesen Thatsachen
scheint mir auch die Unrichtigkeit der Ansicht hervorzugehen, den Alkohol z. B. als aus
Kohlenwasserstoff und Kohlensäure oder ölbildendem Gas und Wasserdampf zusammengesetzt
zu betrachten. - So gut man nun durch bloße Rechnung hätte finden können,
dass cyansaures Ammoniak und Harnstoff gleiche Zusammensetzung haben, so ließe sich
vielleicht noch bey manchen anderen Substanzen ein ähliches Verhältniss nachweisen,
wie z. B. dass manche oder alle vegetabilische Salzbasen durch die Vereinigung von Ammoniak mit
gewissen organischen Säuren entstehen, was noch plausibler wäre, wenn man den
salpetersauren Harnstoff als ein Salz betrachten darf. - Was mag entstehen, wenn man ein
knallsaures Salz mit Ammoniak zersetzt? Vielleicht richtiges cyansaures Ammoniak. -
Diese künstliche Bildung von Harnstoff, kann man sie als ein
Beispiel von Bildung einer organischen Substanz aus unorganischen Stoffen betrachten?
Es ist auffallend, dass man zur Hervorbringung von Cyansäure (und auch von Ammoniak)
immer doch ursprünglich eine organische Substanz haben muss, und ein Naturphilosoph
würde sagen, dass sowohl aus der thierischen Kohle, als auch aus den daraus gebildeten
Cyanverbindungen, das Organische noch nicht verschwunden, und daher immer noch ein organischer
Körper daraus wieder hervorzubringen ist.
Ihr Wöhler.
Darf ich recht bald einige Zeilen von Ihnen über diese Geschichte erwarten? (...)
Anmerkungen:
1) Gay-Lussac hatte aus Anlass der Liebig-Wöhlerschen Kontroverse über
die Zusammensetzung der knallsauren und cyansauren Salze die Vermutung angestellt, in den
Silbersalzen seien die gleichen Elemente in verschiedener Weise angeordnet - womit er Recht
hatte.
2) Hier handelt es sich um die bekannte Untersuchung über isomere Kohlenwasserstoffe.
Berzelius an Wöhler:
Stockholm d. 7. März 1828.
Nachdem man seine Unsterblichkeit beim Urin angefangen hat, ist wohl aller Grund vorhanden,
die Himmelfahrt in demselben Gegenstand zu vollenden, - und wahrlich, Hr. Doktor hat wirklich die
Kunst erfunden, den Richtweg zu einem unsterblichen Namen zu gehen. Aluminium und künstlicher
Harnstoff, freilich zwei sehr verschiedene Sachen, die so dicht aufeinander folgen, werden,
mein Herr! als Edelsteine in Ihren Lorbeerkranz eingeflochten werden, und sollte die
Quantität des artificiellen nicht genügen, so kann man leicht mit ein wenig aus dem
Nachttopf supplieren. Sollte es nun gelingen, noch etwas weiter im Produktionsvermögen zu
kommen (vesiculae seminales liegen ja weiter nach vorn als die Urinblase), welche
herrliche Kunst, im Laboratorium der Gewerbeschule ein noch so kleines Kind zu machen. - Wer
weiß? Es dürfte leicht genug gehen. - Aber nun genug mit Raillerie, besonders da ich
es so eilig habe, nur Verständiges im Jahresbericht zu schreiben. Es ist eine recht wichtige
und hübsche Entdeckung, die Hr. Doktor gemacht hat, und es machte mir ein
ganz unbeschreibliches Vergnügen, davon zu hören. Es ist ein ganz sonderbarer Umstand,
dass die Salznatur so vollständig verschwindet, wenn die Säure und das Ammoniak sich
vereinigen, was für künftige Theorien sicher sehr aufklärend sein wird.
Aber lassen Sie um Alles in der Welt von der Reduktion der Beryllerde und der Yttererde
nicht ab, nach welchen ich mich aufs Höchste und so sehr sehne. (...)
Gruß und Freundschaft
Berzelius
Entnommen aus:
O. Wallach (Hg.): Briefwechsel zwischen J. Berzelius und F. Wöhler; Sändig
Reprint Verlag, Hans R. Wohlwend, Vaduz/Liechtenstein 1984.
(Für die Bereitstellung der Literaturquelle Dank an StD. Dr. Heiner Schönemann, Neukirchen-Vluyn.)