Natriumnitrat - vom Nutzen der Vokale
von Heiner Schönemann
Der Name Natriumnitrat zeigt auf den ersten Blick keine Besonderheiten: Die Endsilbe -at weist darauf hin, dass es sich hier um das Salz einer sauerstoff-haltigen Säure handelt, und die beiden anderen Bestandteile des Wortes geben Auskunft über die weiteren Atomsorten, die in der Substanz enthalten sind: Natrium und Nitrogenium, der Nitrum-erzeuger. Nitrum ist (wie wir noch sehen werden) ein alter Ausdruck für Kaliumnitrat.
Auf den zweiten Blick fällt jedoch auf, dass in beiden Wortstämmen dieselben
Konsonanten in identischer Abfolge vorliegen, ntr,
und das hat seinen Grund: Beide Wörter leiten sich nämlich von einem Begriff ab, einem Jahrtausende alten Ausdruck
der Ägypter: neter. In ihren Hieroglyphen gab es jedoch keine Schriftzeichen für
Vokale, deswegen heißt es in den schriftlichen Zeugnissen der Ägypter eben nur 'ntr'.
Damit waren zunächst hauptsächlich die in den ägyptischen Salz-Seen vorkommende
Soda (Na2CO3) gemeint, aber auch die beim Verbrennen von Pflanzen erhaltene
Pottasche (K2CO3).
Dieses neter wurde in der Antike ausgiebig und zu ganz unterschiedlichen Zwecken
genutzt, z. B. von den Ägyptern für das Mumifizieren der Leichen.
So schreibt der 'Vater der Geschichtsschreibung', der Ionier Herodot (484 - 420 v.
Chr.), in seinen Historien [1]:
"Nun legen sie die Leiche ganz in Sodalösung, siebzig Tage lang. (...) Das Fleisch wird
durch die Sodalösung aufgelöst, so dass von der Leiche nur Haut und Knochen übrig
bleiben."
(In der zitierten Übersetzung heißt es statt "Sodalösung" "Natronlauge". Es ist aber davon
auszugehen, dass die Ägypter bzw. der Ionier Herodot die Natronlauge in unserem heutigen Sinne gar
nicht kannten, sondern dass hiermit eine konzentrierte und daher ebenfalls stark alkalische
Sodalösung gemeint ist.)
Der römische Schriftsteller Gaius Secundus Plinius beschreibt unter anderem eine
andere Verwendung für neter [2]:
"Zu einem Zahnpulver gebrannt, gibt er schwarzgewordenen Zähnen die natürliche
Farbe wieder."
Dabei verwenden die beiden Autoren statt neter bereits andere Begriffe, die sich aus
dem vokallosen ntr entwickelt haben: In Griechenland entstand zunächst das
nitron, aus dem im Lateinischen nitrum wurde. Daraus wurde später
in Arabien das natron. Alle Wörter bedeuteten ursprünglich jedoch dasselbe.
Der Begriff Nitrum wurde dann im Mittelalter auf Salpeter, d. h. Kaliumnitrat, übertragen. In der 'chemischen Revolution' wurde aus diesem Wort der Elementname Nitrogenium (Salpeter-erzeuger) entwickelt.
Der Name "Natron" galt bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts für Soda und Pottasche sowie für Mischungen aus beiden. Dann erkannte Andreas Siegesmund Marggraf (1709 - 1732, Berliner Chemiker) 1758 an der Flammenfärbung, dass es sich bei der Soda und bei der Pottasche um zwei verschiedene Stoffe handelte. 1797 nannte deshalb Martin Heinrich Klaproth (1743 - 1817, erster Chemie-Professor an der Universität Berlin) das aus Pflanzenasche erhaltene Produkt Kali (unsere heutige Pottasche) - im Gegensatz zum Natron (unsere heutige Soda). Das Wort 'Kali' kommt übrigens ebenfalls aus dem Arabischen: al-qali (al, der, die, das; qali, Asche). Damit bezeichneten die arabischen Chemiker die Laugen (-> alkalisch).
Natriumcarbonat wurde bald nur noch Soda genannt. Merkwürdigerweise hielt sich auch bei uns der Name Natron. Allerdings bezeichnet man damit das Natriumhydrogencarbonat - auch ein Bestandteil der Salz-Seen.
So hat das Fehlen der Vokale in den ägyptischen Hieroglyphen bewirkt, dass aus einer Stoffbezeichnung die Namen zweier ganz unterschiedlicher Elemente entwickelt worden sind.
Literatur:[2] Plinius, Naturgeschichte, Buch XXXI, Kap. 10. Zitiert nach: Übersetzung von Chr. F. L. Strack, Bremen 1855.
Autor:
Dr. Heiner Schönemann, Neukirchen-Vluyn (heinrichschoenemann@web.de)