Proteine und DNA: Auch Makromoleküle bilden prächtige Kristalle

Lange Zeit galten Makromoleküle als glibberige, quallenartige Moleküle, um die sich ein ordentlicher Chemiker nicht zu kümmern hatte: Bis es gelang, sie kristallin darzustellen!
Hierzu haben viele bedeutende, in ihrer Zeit aber weitgehend unbeachtet gebliebene Entdeckungen mitgeholfen: Zunächst isolierte Miescher in den kalten Schlosslaboratorien von Tübingen 1866/68 erstmalig Nucleinsäuren (publiziert von Hoppe-Seyler 1871). Zur Vorgeschichte der Entdeckung: Dieses Schloss beherbergte ein Lazarett aus dem Deutschen Krieg von 1866, und Miescher untersuchte die massenhaft anfallenden Eiterverbände, die er gewissenhaft extrahierte. Die Kälte im Schlosslabor war sein Glück: Er arbeitete quasi wie ein moderner Chemiker in einem Kältelabor, wodurch die Wirkung der DNA-Hydrolasen unterdrückt wurde. Er schuf, was keiner ahnen konnte, damit die Grundlage für die chemische Genetik. Heute hätte er einen Nobelpreis bekommen, denn die DNA ist bekanntlich die Ursubstanz des Informationsverarbeitungssystems "Leben". Sie bildet in ihrer Gesamtheit das Genom, über dessen Rolle man seit Mendels Veröffentlichungen (um 1860) hätte Bescheid wissen können. Die gesamte DNA des Menschen ist 1,5 bis 2 m lang, und das pro Zelle! Heute - am 26.06.2000 - meldet man, dass man die menschliche DNA entschlüsselt hat. Kinder, merkt euch das Datum! That´s history!
1897 entdeckte darüber hinaus ein Wissenschaftler namens Buchner, dass Enzyme auch außerhalb ihrer Organismen wirksam sind (Nobelpreis 1907).
Aber allen ur-biochemischen Arbeiten fehlte die "Schönheit der Struktur", die bei den üblichen kleinen Molekülen wie dem Benzol unter Verschleißen von Legionen von Doktoranden und Assistenten in kunstvoller Tüftelei ermittelt werden konnte.
Die folgenden biochemischen Arbeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigten nicht nur, dass es sich bei einheitlichen Protein- oder DNA-Fraktionen um physikalisch exakt reproduzierbar aufgebautes, "ordentliches" Material handelte, was die klassischen Chemiker immer bezweifelten. Mit denen konnte man sogar richtige Kinetik betreiben, wie Leonor Michaelis und seine Mitarbeiterin, Miß Maud Menten, 1913 zeigten.
Nun konnte man mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse auch sogar in die Moleküle "hineinsehen". Man fand die Helix- und die Faltblattstruktur bei den Proteinen und die Doppelhelix bei der DNA. Man erkannte die strukturbildende Wirkung der Aminosäurereste der Proteine und die feinsten Strukturelemente, die für die ungestörten Funktionen der Proteine und DNA vonnöten sind.

Darüber hinaus entdeckte man bei den katalytisch wirksamen Proteinen die Anlagerungspunkte für die Substrate und die katalytisch aktiven Zentren. Und man konnte sogar Zwischenprodukte, die für die enzymatische Katalyse typisch sind, identifizieren. Damit verstand man endlich auch auf molekularer Ebene, was Emil H. Fischer schon um 1900 postulierte: Das Schlüssel-Schloss-Prinzip. (Ein Substrat passt zum Enzym wie ...)
Damit war auch deutlich geworden, dass Proteine und Enzyme keine zufälligen Glibberbrocken waren: Der Zusammenhang zwischen einer hoch spezifischen Proteinstruktur und ihrer enzymatischen Wirksamkeit wurde deutlich. Das, was bislang auf niedermolekularer Ebene bewundert wurde, erwies sich auch auf makromolekularer Ebene als Realität.
Merkwürdigerweise war es eines der größten bekannten Enzyme, das man als erstes kristallin erhielt. Denn je größer ein Enzym ist, desto empfindlicher ist es meist. Es war die Urease, das Haustier des Chemieunterrichts. Diese wurde erstmals 1926 vom Amerikaner J. B. Sumner in prächtiger Oktaederform erhalten. Für diese Pioniertat gab´s dann 1946 auch den verdienten Nobelpreis.

Aber auch andere Enzyme bilden genauso schöne Kristalle mit Molekülgittern.

Man darf dabei aber nicht vergessen, dass nicht die biochemische Forschung allein diesen Fortschritt bewirkt hat. Es war vor allem der Verbund mit der jungen Wissenschaft Informatik, die es durch Konstruktion immer leistungsfähigerer Computer schaffte, die für die Analyse der Röntgenstrukturdaten von Proteinmolekülen immer komplizierter werdenden Algorithmen der Fourier-Analyse zu bewältigen.

Und wie bekommt man solche Kristalle? Manchmal durch Zufall. Dem Autor ist ein Beispiel bekannt: In Tübingen entdeckte man in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts beim jährlichen Aufräumen der Institutskühlschränke eine Lösung, in der prächtige Kristalle lagen. Es waren der Form nach sicherlich keine Natriumsulfatkristalle. (Man benutzt dieses Inertsalz in der Biochemie zum Abtrennen von Proteinfraktionen.) Nur der Aufmerksamkeit eines Mitarbeiters ist es zu verdanken, dass diese Lösung nicht weggeworfen wurde, sondern dass ein Enzym kristallisiert erhalten und anschließend in der Struktur aufgeklärt werden konnte...

In diesem Zusammenhang sei auch an die Viren erinnert, die nicht nur schöne Kristalle bilden, sondern auch kristallartig aufgebaut sind. Hierzu findet man in der Webseite zu den Fullerenen einige Beispiele.

Es ist insgesamt erstaunlich, dass die meisten Chemiker die Wissenschaftlichkeit der Beschäftigung mit Makromolekülen und vor allem mit Proteinen und Enzymen in Frage stellten. (Die Beschäftigung mit der Geschichte der Anfeindungen gegen den späteren Chemie-Nobelpreisträger H. Staudinger, der die Strukturen von Makromolekülen der Kunststoffe aufklärte, ist hier besonders lehrreich.)
Hat sich viel geändert? Noch heute lehnen viele Chemiker vehement den erfolgreichen Studiengang "Biochemie" ab. Eine fatale Fehleinschätzung, denn mittlerweile hat die Biochemie in vielen Bereichen die klassische Chemie als Wissenschafts- und Wirtschaftsfaktor überholt. Das gilt auch für die Chancen für Berufseinsteiger. Und auf dem Gebiet der Biochemie werden zunehmend mehr Nobelpreise verteilt als auf dem der "klassischen" Chemie. Grund dafür ist unter anderem, dass man mit Hilfe der Analyse von kristallinen Strukturen biochemischer Moleküle erkannte, dass letztlich auch alle biochemischen Abläufe "nur" chemische Prozesse sind, die man verstehen und deshalb auch steuern kann.
Kennt man aktive Zentren von Enzymen, Rezeptoren und so weiter, kann man natürlich auch im Sinne eines Drug Design Hemmstoffe oder Aktivatoren basteln. Das ist heute die Grundlage der Erfolge der pharmazeutischen Industrie.


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Letzte Überarbeitung: 26. Februar 2007, Dagmar Wiechoczek