Prof. Blumes Tipp des Monats April 1999 (Tipp-Nr. 22)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Warum manche Leute ihre Post im Dunkeln öffnen

Vor einigen Tagen flatterte dieser Brief einer Lehrerin, die wir noch als excellente und interessierte Studentin in Erinnerung haben, in unser E-Mail-Körbchen:

Lieber Prof. Blume,
als ich letztens im Dunkeln einen selbstklebenden Briefumschlag öffnete,
leuchtete der Klebstoff bläulich auf. Ich war so fasziniert, dass ich diese
Umschläge jetzt immer im Dunklen öffne. Da man als Lehrerin leider gar
keine Zeit hat, sich um die interessanten Dinge des Lebens zu kümmern, wende
ich mich also voller Neugier an Sie: Wieso leuchtet Briefumschlag-Kleber im
Dunkeln??
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen!
Viele Grüsse
Marion Göthlich
(z. Z. Lehrerin am Städtischen Gymnasium Bad Driburg)

Wir haben das sofort ausprobiert und können die Sache bestätigen. Damit ihr es auch einmal testen könnt, haben wir beschlossen, euch die Story als Tipp des Monats mitzuteilen.

Das Experiment: Der leuchtende Briefumschlag
Öffnet den Brief nicht an der Selbstklebeschicht, sondern verwendet ein Messer oder eine Schere zum Aufschneiden. So könnt ihr mit der Klebeschicht besser experimentieren. Nehmt außerdem nur solche Briefe, die frisch sind und nicht zu lange herumgelegen haben.
Der Raum, in dem ihr das Leuchten der Klebeschicht sehen wollt, muss auch wirklich gut abdunkelbar sein!
Vor dem Abziehen solltet ihr die Klebestelle noch einmal fest andrücken. Dann zieht ihr die Schichten langsam (aber wiederum nicht zu langsam!) auseinander. Dort, wo die Klebung aufreißt, erkennt ihr einen bläulich bis lilafarbenen leuchtenden Strich.
Das müsst ihr wahrscheinlich einige Male üben. Ihr könnt den Brief nach dem Öffnen im Hellen wieder vorsichtig zukleben und es noch einmal probieren.

Wenn ihr das Leuchten einmal gesehen habt, fangt ihr jeden Brief ab, der selbstklebend verschlossen ist!

Was für ein Licht ist das?
Bei der Lichterscheinung beim Öffnen der Klebestelle handelt es sich nicht um eine Lumineszenz, sondern um elektrische Entladungen, also schlicht um echte elektrische Blitze. Versucht deshalb einmal, einen selbstklebenden Briefumschlag neben der Antenne eines Radios mit Mittelwelle zu öffnen. Der Lautsprecher knackt wie bei atmosphärischen Störungen durch ein Gewitter. Mit einem Oszillographen könnt ihr die Spannungsstöße sichtbar machen. Man hat dabei für die Feldstärke Werte um 800 V/cm ermittelt.
Mit Klebstoffen und unter anderem auch mit dem Leuchtphänomen befasst sich sogar eine Doktorarbeit [1]. Die könnt ihr euch in jeder Bibliothek ausleihen. Um es aber gleich zu sagen: Zur Entstehung der elektrischen Aufladung gibt es viele verschiedene Theorien, und eine ist für euch schwieriger zu verstehen als die andere. Aber meistens reicht es ja auch aus, dass ihr euch nur an dem Phänomen erfreut und den Effekt euren Eltern oder Freunden vorführen könnt!

Warum die Klebestellen beim Öffnen leuchten
Selbstklebende Umschläge sind mit Adhäsionsklebern (Haftklebstoffen) beschichtet. Chemisch handelt es sich bei diesen meistens um Kautschukanaloge oder um Polyacrylate, Polymere aus Acrylsäure-Estern. Erstere sind wegen der C=C-Doppelbindungen wenig oxidationsbeständig, also z. B. empfindlich gegen Ozon. Für letztere gilt das Umgekehrte. (Deshalb gibt es so unterschiedlich haltbare Klebestellen für Briefumschläge.)

Ausschnitte aus beispielhaften Polymermolekülen von Haftklebern

Anders als viele übliche Klebstoffe gehen Haftkleber keine stärkeren chemischen Bindungen ein, sondern kriechen in jede gebotene Lücke des "Gegenübers", das fixiert werden soll. Will man die Klebstelle öffnen, hält aber nicht nur ein Saugglockeneffekt die Stücke zusammen.

Die Adhäsion beruht unter anderem auch auf van der Waals-Wechselwirkungen, also eigentlich auf sehr schwachen Bindungskräften. Wenn ein Klebepartner jedoch eine gewisse Polarität aufweist (wie die Cellulose im Papier), induziert er im anderen ebenfalls eine Polarität. Die Folge kann sein, dass die Adhäsionskräfte bei genügender Polarisierbarkeit in die Größenordnung von Dipol-Dipol-Wechselwirkungen kommen.
Solche Induktionen beobachtet man auch bei den völlig unpolaren Metalloberflächen, die mit Adhäsionsklebern, die wie die Polyacrylate (wenn auch nur sehr schwache) polare Gruppen enthalten, in Kontakt kommen. Es kommt dabei sogar zu einer regelrechten Ladungsträgerdiffusion durch die Grenzschicht zwischen Klebstoff und Klebepartner.

Der Klebevorgang ist ein potentialaufbauendes Grenzflächenphänomen
Mit Hilfe von thermodynamischen Überlegungen lässt sich berechnen, dass sich in der Grenzfläche starke chemische Potentiale aufbauen. (Für Kenner: Durch solche Grenzflächen-Kontakte steigt die Freie Energie des Mehrphasen-Systems.)
Das hat aber auch reale Auswirkungen: Unter der Wirkung dieser Potentiale beginnt eine Wanderung von Elektronen durch die Grenzfläche von einer Phase in die andere. Diese Wanderung hält solange an, bis das chemische Potential an der Phasen-Grenzfläche energetisch ausgeglichen ist.
Dadurch bildet sich aber nicht etwa ein spannungsfreies Gleichgewicht, sondern im Gegenteil eine elektrische Doppelschicht (-> Bild oben) aus. Die bewirkt wahrscheinlich die Effektivität dieser Klebstoffe, die mittlerweile auch eine große technische Anwendung (z. B. beim Kleben von Metallen) gefunden haben.
Zum Lösen der Klebestelle muss die Energie der elektrischen Doppelschicht überwunden werden. Man muss deshalb kräftig an der Klebestelle ziehen. Dabei huschen die Elektronen wieder in ihre ursprünglichen Phasen zurück - das äußert sich als elektrischer Blitz.

Elektrische Aufladungen gibt es auch bei der Tankstelle
Die elektrische, Potentiale aufbauende Wechselwirkung zwischen Metalloberflächen und organischen Stoffen erinnert an ein bekanntes Phänomen: Wenn ihr Lösemittel aus Metallkannen gießt, kommt es zu elektrischen Aufladungen, die sogar zur Zündung der Lösemitteldämpfe führen können. Deshalb sind diese Kannen mit Flammen-Rückschlagsicherungen versehen (Salzkottener Kannen).
Aus den gleichen Gründen werden beim Einfüllen von Heizöl in eure Haustanks die Leitungen geerdet.
Fragt auch bei eurer Tankstelle nach, ob es hier ähnliche Schutzmaßnahmen gibt.


Rüdiger Blume


Weitere Tipps des Monats


Literatur
R. Hüther: Ein Beitrag zur Klärung der Adhäsionsmechanismen von Haftklebstoffen, Dissertation Universität Kaiserslautern, Verlag Shaker Aachen 1995.


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Letzte Überarbeitung: 12. August 2008, Dagmar Wiechoczek