Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie


Tipp des Monats Oktober 2021 (Tipp-Nr. 292)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Netzhautablösung und Schwefelhexafluorid

Rüdiger Blume

Du wachst morgens auf und du stellst fest, dass im linken Auge das halbe Gesichtsfeld schwarz ist. Das habe ich selbst vor zwei Wochen erlebt. Anzeichen gab es schon einige Tage vorher: Lichtblitze im Auge, dazu gehäuftes Auftreten fliegender schwarzer Punkte (Mouches volantes; franz. fliegende Mücken, Fliegen). Aber für mich kam es doch überraschend.

Das sah nach Netzhautablösung aus. Die Netzhaut ist die lichtempfindliche Tapete, die den Augenhintergrund bedeckt. Wenn sie sich ablöst, verliert sie den Kontakt zu den Blutgefäßen und verhungert.

Netzhautablösungen gelten als medizinischer Notfall. Deshalb bin ich gleich zum Augenarzt und der hat mich sofort in eine Augenklinik überwiesen. Dort wurde ich noch am gleichen Tag unter Vollnarkose operiert.

Die Operation ist ein mikroskopisches Kunstwerk. Dabei werden feinste Instrumente (wie Lämpchen, Glaskörper-Häcksler, Abpump- und Fusionsgeräte, Hitze- und Kältestäbe, Laser usw.) durch kleinste Schnitte in den Augapfel eingeführt. Zunächst wird der Glaskörper homogenisiert und abgesaugt. Man spricht von Vitrektomie (lat. vitrum, Glas und lat. exsecare, ausschneiden). Zur Erinnerung: Der Glaskörper besteht zum größten Teil aus Wasser und wird stabilisiert durch Strukturpolymere wie Kollagen und Hyaluronsäure. Er hat die Eigenschaften eines Flummis. Woher ich das weiß? In meinem Biochemie-Studium mussten wir aus Ochsenaugen-Glaskörpern Hyaluronsäure isolieren.

Damit der geleerte Augapfel seine Form behält, füllt man zunächst eine ölige Flüssigkeit ein. Dadurch wird zugleich die Netzhaut wieder auf den Augenhintergrund gedrückt. Mit verschiedenen Methoden wie kurzfristige Einwirkung von extremer Kälte und Hitze sowie von Laser-Strahlen wird die Netzhaut festgetackert und werden kleinere Läsionen (Verletzungen, Schäden) repariert. Im OP-Bericht steht dann: Exokryo-Koagulation, Endodiathermie und Endolaser-Koagulation.

Die Auffüll-Flüssigkeit wird in der Medizin seltsamerweise „Dekalin“ genannt. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um das chemische Dekalin! Letzteres ist Perhydro-Naphthalin, ein zyklischer Kohlenwasserstoff. Das ist ausgerechnet eine augenreizende Flüssigkeit...

Zurück zur Operation: Anschließend wird das „Dekalin“ durch ein Gas-Luft-Gemisch verdrängt. Im OP-Bericht heißt es lapidar: SF6-Gas-Luft-Auffüllung. Da wird der Chemiker hellhörig: SF6 – das ist doch eine chemische Verbindung? Besser geschrieben: SF6, also Schwefel-Hexafluorid.

Das klingt gar nicht besonders gesund… Also wird gleich recherchiert, was zu diesem Stoff zu sagen ist. Man kann bei Wikipedia nachsehen, oder man greift zum Standardwerk der Anorganiker, dem Holleman-Wiberg [1].


Zur Chemie des Füllgases Schwefel-Hexafluorid
SF6 ist ein farb-, geruchs- und geschmackloses Gas. Es handelt sich um eine völlig inerte Substanz. Chemiker sprechen gern von einem „Toten Hund“. Man vergleicht SF6 deshalb mit Stickstoff. Allerdings ist seine Dichte etwa fünfmal so groß wie die der Luft. Unter Normalbedingungen sublimiert das Gas bei -51 °C. All das macht SF6 für vielerlei technische Anwendungen besonders als Schutzgas zur Abschirmung gegen Luftsauerstoff interessant – aber auch (wie wir gleich sehen werden) für medizinische Zwecke.

Hergestellt wird das Gas durch direkte, stark exotherme Reaktion zwischen den Elementen. Vereinfachend kann man die Reaktionsgleichung so formulieren:

S + 3 F2 -> SF6 + Energie

Die molekulare Struktur von SF6 lässt sich leicht herleiten: Die symmetrische Anordnung von sechs Liganden um ein Zentral-Atom kann nur ein Oktaeder ergeben. Die gleiche kubische Symmetrie zeigt auch das iso-elektronische Aluminium-Hexafluorid-Ion [AlF6]3-. Diese Verbindung gehört zu den chemischen Komplexverbindungen.

Bild 1: Oktaeder

Das Oktaeder kennt man auch aus der Kristallchemie, typischerweise von der Familie der Alaune.

Bild 2: Selbst gezüchteter Alaunkristall
(Foto: Daggi)

Die große Dichte, die Reaktionsträgheit und seine Unlöslichkeit in Wasser machen SF6 als Füllgas für den Augapfel besonders geeignet.


Was passiert nach der Operation mit dem Gas?
SF6 diffundiert langsam (bei mir dauerte das etwa zwei Wochen) ins benachbarte Gewebe ab. Im gleichen Maße fließt Augenwasser ein und es bildet sich neues Stützgewebe. Irgendwann sieht man einen Meniskus (lat. Mönchlein), also die Grenzfläche zwischen Gasraum und Flüssigkeit. Wenn man den Kopf bewegt, erkennt man Kräuselungen der Flüssigkeitsoberfläche und sogar kleine Wellen… Bald sieht man nur noch eine Gasblase, die immer kleiner wird und dann ganz verschwindet. Entsprechend nimmt auch das Sehvermögen wieder zu.


Zur Vitrektomie gibt es im Netz viele Artikel
Letztlich sagen alle das Gleiche. Eine Ausnahme gibt es: Für mich ist das ein wunderbarer Artikel von Matthias Lehmphul im Berliner „Tagesspiegel“ [2]. Der Autor beschreibt minutiös die Abläufe bei der OP (kommentiert vom operierenden Arzt) und die Gefühle bzw. Beobachtungen der Patienten vor der OP und danach.


Nie berichtet: Was und wie sieht man nach der Operation?
Eine staunenswerte Besonderheit, die mir sofort auffiel, wird jedoch nirgendwo erwähnt: Man sieht die Gasblase nicht oben schwimmen, sondern unten. Das Bild steht also auf dem Kopf!

Um das zu erklären, muss man die Physik bemühen: Unsere Augen funktionieren wie eine Lochkamera, also wie eine Camera obscura. Das ist letztlich eine Kiste oder (im Falle des Augapfels) eine Kugel, die vorne eine Linse trägt und hinten einen Sichtschirm oder eine lichtempfindliche Schicht, den Film oder die Fotoplatte (im Falle des Auges die Netzhaut). Wenn man auf den Bildschirm blickt, sieht man die Abbildung auf dem Kopf stehend.

Deshalb sieht auch ein Neugeborenes die Welt zunächst verkehrt herum. Um das Gesehene mit den anderen räumlichen Gefühlen (Schwerkraft, Tastsinn, Richtung von Geräuschen usw.) in Einklang zu bringen, lernt das junge Gehirn ziemlich schnell, das Bild „richtig“ umzudrehen.

Das hat aber zur Folge, dass man als „angelernter“ Erwachsener eine Gasblase im Innenraum des Augapfels unten und nicht wie erwartet oben schwebend sieht!

Das Problem war mit dem Verschwinden der Gasblase erledigt.


Last but not least
Obendrauf gab es noch eine neue Augenlinse...


Danke!
Es ist alles gut verlaufen. Ich kann wieder mehr oder weniger ohne Einschränkung sehen. So bleibt mir zum Schluss nur noch, dem Team der Augenklinik im Bielefelder Krankenhaus Rosenhöhe für die wunderbare Arbeit zu danken...


Literatur:
[1] A. F. Holleman, E. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie, Walter de Gruyter, Berlin, New York (neueste Auflage).
[2] Matthias Lehmphul: Gasdruck statt Glaskörper; Tagesspiegel 22.4.2021, https://www.tagesspiegel.de


Weitere Tipps des Monats


Diese Seite ist Teil eines großen Webseitenangebots mit weiteren Texten und Experimentiervorschriften auf Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie.
Letzte Überarbeitung: 30. Oktober 2021, Fritz Franzke