Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie


Tipp des Monats Juni 2025 (Tipp-Nr. 331)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Chemie lernen zwischen Bunsenbrenner und Browser: Die Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet

Dennis Dietz

Ein zentraler Bildungsauftrag des Unterrichtsfachs Chemie besteht darin, die Schüler*innen zur „Beurteilung von historischen, aktuellen, und zukünftigen Umwelt-, Verbraucher-, Ressourcen- oder Alltagsfragen [sowie] von kulturellen und technischen Entwicklungen“ zu befähigen [1, S. 11]. Diese Urteilsfähigkeit – die auch aus bildungstheoretischer Perspektive als Ziel allgemeiner Bildung zu sehen ist – spiegelt sich in den Bildungsstandards des Kompetenzbereichs „Bewertungskompetenz“ wider. Im Bildungsstandard B2 heißt es, dass die Lernenden „die Inhalte verwendeter Quellen und Medien (z. B. anhand der fachlichen Richtigkeit und Vertrauenswürdigkeit [beurteilen]“ [1, S. 18] können sollen. Da das Internet die Hauptinformationsquelle für Schüler*innen darstellt [u.a. 2], ist es dringend erforderlich, die Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet mit den Schüler*innen auch im Chemieunterricht zu üben.
Im Monatstipp Dezember 2023 habe ich vor diesem Hintergrund bereits das FLICC-Modell (zu Deutsch: PLURV-Modell) von Cook [u.a. 3] vorgestellt, mit dessen Hilfe Schüler*innen das Identifizieren von Desinformationen erlernen können.
In diesem Beitrag werde ich ausgehend von ausgewählten theoretischen Betrachtungen aufzeigen, wie man Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet fördern und diese Kompetenzförderung sinnstiftend und zeitökonomisch mit der Vermittlung von chemischen Fachinhalten verknüpfen kann.


Recherche von Laien vs. Recherche von professionellen Faktencheckern
Wenn Laien im Internet recherchieren, greifen sie auf Heuristiken zurück [4]. Unter Heuristiken versteht man „einfache Regeln im adaptiven Werkzeugkasten des Geistes, um Entscheidungen mit realistischen mentalen Ressourcen zu treffen“ [5, S. 727, übers. d. A.]. Typische Heuristiken sind das Betrachten der Ästhetik und der Aktualität einer Webseite [u.a. 4,6,7]. Darüber hinaus nehmen Laien die Reputation des Autors/der Autorin oder Empfehlungen von Organisationen (wie bspw. Stiftung Warentest) in den Blick [u.a. 4,6,7]. Wenn der Eindruck gewonnen wird, dass etwas verkauft werden soll oder wenn die dargelegten Informationen nicht mit dem eigenen Vorwissen übereinstimmen, dann neigen Laien dazu, die Glaubwürdigkeit einer Webseite als eher gering einzuschätzen [u.a. 4,6,7]. Zweifelsohne sind Heuristiken, wie das Überprüfen der Ästhetik, nicht zielführend dafür, die Glaubwürdigkeit von Informationen einer Webseite korrekt einzuschätzen.
Professionelle Faktenchecker gehen grundsätzlich anders bei der Online-Recherche von Informationen vor [8]. Wineburg und Kollegen haben professionelle Faktenchecker bei ihrer Arbeit begleitet und drei zentrale Inhaltsdomänen identifiziert, die für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Online-Information von zentraler Bedeutung sind [8].

  1. „Footing“: Darunter verstehen Wineburg und Kollegen das notwendige Basiswissen des Recherchierenden über das Internet, das für eine erfolgreiche Recherche benötigt wird. Zu diesem Basiswissen gehört u.a., dass jeder Mensch jederzeit Informationen verbreiten kann, ohne dass diese von Expert*innen geprüft werden müssen. Wichtig ist auch Wissen darüber, wie Online-Suchmaschinen funktionieren und dass die ersten Webseiten, die eine Online-Suchmaschine anzeigt, nicht zwangsläufig auch glaubwürdig sein müssen [8].
  2. „Taking Bearings“: Professionelle Faktenchecker nutzen eine Reihe zeitsparender Strategien, um einen schnellen Überblick über die Vielzahl an Ergebnissen von Online-Suchmaschinen zu erhalten. Eine bedeutsame Strategie ist das „click restraint“. Darunter versteht man das bewusste Widerstehen, die ersten Ergebnisse einer Online-Suchmaschine auszuwählen, da die Positionierung von Webseiten in Suchmaschinenergebnissen ausschließlich durch Bezahlung oder spezielle Verfahrensschritte des SEO („search engine optimization“) zustande kommt, und unabhängig von der Glaubwürdigkeit zu betrachten ist [8].
  3. „Lateral Reading“: Im Gegensatz zum klassischen Lesen von oben nach unten (dem vertikalen Lesen), werden beim „Lateral Reading“ (dem Querlesen oder auch horizontalen Lesen) einzelne Informationen gezielt geprüft. Dazu werden mehrere Registerkarten des Webbrowsers geöffnet und drei zentrale Fragen geklärt: 1. Wer steckt hinter der Information? 2. Was ist die Evidenz? 3. Was sagen andere Quellen aus? [8]

„Lateral Reading“: Im Gegensatz zum klassischen Lesen von oben nach unten (dem vertikalen Lesen), werden beim „Lateral Reading“ (dem Querlesen oder auch horizontalen Lesen) einzelne Informationen gezielt geprüft. Dazu werden mehrere Registerkarten des Webbrowsers geöffnet und drei zentrale Fragen geklärt: 1. Wer steckt hinter der Information? 2. Was ist die Evidenz? 3. Was sagen andere Quellen aus? [8]

  • die funktionale Auswahl von Quellen aus Suchmaschinenergebnissen,
  • die funktionale Auswahl von Quellen aus Suchmaschinenergebnissen,
  • die geeignete Nutzung von Wikipedia
zu unterrichten.


Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen in einer dreiteiligen Unterrichtssequenz fördern
Auf Grundlage der zuvor ausgeführten theoretischen Betrachtungen zur Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet lässt sich die in Tabelle 1 dargestellte dreiteilige allgemeine Unterrichtssequenz ableiten.

Teil Fachinhalt Methoden
1 Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer ausgewählten Webseite Lesen einer Webseite und Reflexion der eigenen Glaubwürdigkeitseinschätzung
2 Strategien professioneller Faktenchecker 1: „SEO und click restraint“ Erstellen einer suchmaschinenoptimierten Webseite zu einem Thema
3 Strategien professioneller Faktenchecker 2: „Lateral Reading“ und „Wikipedia“ Durchführen eines Faktenchecks und Recherche von Quellen in Wikipedia

Tab. 1: Allgemeine dreiteilige Unterrichtssequenz zum Erlernen der Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet

Um im Sinne der konstruktivistischen Lernauffassung an das Vorwissen anzuknüpfen, bekommen die Schüler*innen in einem ersten Schritt die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit einer ausgewählten Webseite einzuschätzen und ihre Glaubwürdigkeitseinschätzung zu reflektieren (Teil 1). In diesem Zusammenhang können sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie für Glaubwürdigkeitsentscheidungen auf einfache, nicht immer effektive Heuristiken zurückgreifen.
Daran anknüpfend können Strategien professioneller Faktenchecker behandelt werden. Durch das Erlernen von Methoden der Suchmaschinenoptimierung für Webseiten können Schüler*innen dafür sensibilisiert werden, dass eine hohe Positionierung einer Webseite in Suchmaschinenergebnissen kein glaubwürdigkeitserzeugendes Merkmal ist (Teil 2). Da eine Möglichkeit der Suchmaschinenoptimierung das häufige Verwenden zentraler Begriffe ist, kann in diesem Zusammenhang auch die Vernetzung verschiedener Begriffe zu einem Lerninhalt – und damit das erfolgreiche Erlernen von Konzepten – angebahnt werden.
Zum Abschluss der dreiteiligen Unterrichtssequenz sollen die Schüler*innen das „Lateral Reading“ erlernen und aktiv erproben, indem sie Inhalte von ausgewählten Webseiten überprüfen (Teil 3). Für diese Überprüfung werden sie angehalten, wie professionelle Faktenchecker auch, das Literaturverzeichnis von Wikipedia heranziehen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit zum Teil irreführenden oder auch gänzlich falschen Aussagen kann eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt forciert werden.


Am Beispiel des Themas „Kunststoffverwertung“
Am Beispiel des Themas „Kunststoffverwertung“

Teil Fachinhalt Methoden
1 Werkstoffliches Recycling Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Webseite https://diekreislaufflasche.de/ und Reflexion der eigenen Glaubwürdigkeitsentscheidung
2 Rohstoffliches Recycling Prüfen von Aussagen zur Bioabbaubarkeit von beworbenen Kunststoffprodukten und Vergleich mit im Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien zur Bioabbauraten des Kunststoffs
3 Bioabbaubarkeit von Kunststoffen Prüfen von Aussagen zur Bioabbaubarkeit von beworbenen Kunststoffprodukten und Vergleich mit im Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien zur Bioabbauraten des Kunststoffs

Tab. 1: Das Erlernen der Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet innerhalb des Themenfelds „Kunststoffchemie“

Im ersten Teil der Unterrichtssequenz setzen sich die Schüler*innen mit dem werkstofflichen Recycling auseinander, indem sie am Beispiel der Webseite einer Supermarktkette die Vor- und Nachteile von Plastikeinweg- und Mehrwegflaschen diskutieren. Nach der persönlichen Glaubwürdigkeitsentscheidung zu der Webseite wird den Schüler*innen offenbart, dass die Werbung der Supermarktkette von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) im Jahr 2023 für den Goldenen Geier – einem jährlich vergebenen Preis für die laut DUH dreisteste Umweltlüge – nominiert wurde [10]. Die Schüler*innen reflektieren, wie sie durch die Anwendung von Heuristiken zu ihrer Glaubwürdigkeitsentscheidung gekommen sind, und es wird die Notwendigkeit herausgearbeitet, im folgenden Unterrichtsverlauf Strategien für eine zielführende Glaubwürdigkeitseinschätzung zu erlernen.
Im zweiten Teil bekommen die Schüler*innen die Aufgabe, sich mit einem ausgewählten rohstofflichen Recyclingverfahren zu beschäftigen und ein Konzeptpapier für eine suchmaschinenoptimierte Webseite eines Unternehmens zu entwickeln. Auf diese Weise können neben fachwissenschaftlichen auch Kompetenzen aus dem Kompetenzbereich „Kommunikationskompetenz“ gefördert werden. An dieser Stelle bietet sich die Kooperation mit dem Unterrichtsfach Informatik an, sodass Schüler*innen ihre Konzeptpapiere auch praktisch umsetzen können.
Im dritten und letzten Teil lernen die Schüler*innen das Konzept der Bioabbaubarkeit von Kunststoffen am Beispiel des Biokunststoffs PLA kennen. Viele Anbieter von PLA-Produkten werben damit, dass ihre Produkte biologisch abbaubar und kompostierbar sind [u.a. 11]. Die biologische Abbaubarkeit ebenso wie die Kompostierbarkeit von PLA ist jedoch stark von äußeren Faktoren (wie Temperatur, Boden- oder Wasserzusammensetzung bzw. Kompostzusammensetzung, etc.) abhängig [u.a. 12]. Mit Hilfe des „Lateral Reading“ und den im englischsprachigen Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien [13] können Schüler*innen irreführende Aussagen von Anbietern identifizieren und das Konzept der Bioabbaubarkeit konstruieren.


Fazit
Die Förderung von Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet ist eine Schlüsselkompetenz für Schüler*innen, um urteilsfähig und damit zu mündigen Bürger*innen zu werden. Nicht ohne Grund werden Kompetenzen zur erfolgreichen Online-Recherche auch in den Strategiepapieren bzw. Beschlüssen der Kultusministerkonferenz zur „Bildung in der digitalen Welt“ [14] sowie zur „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ [15] aufgeführt und als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer deklariert. Dementsprechend hat auch der Chemieunterricht hierzu einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die im Rahmen dieses Monatstipps vorgestellte allgemeine dreiteilige Unterrichtssequenz ist nicht auf das Thema „Kunststoffverwertung“ beschränkt, sondern lässt sich auf zahlreiche weitere Fachinhalte (auch die anderer Unterrichtsfächer) übertragen.


Literatur:
[1] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Bildungsstandards im Fach Chemie für die Allgemeine Hochschulreife. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2020/2020_06_18-BildungsstandardsAHR_Chemie.pdf, letzter Zugriff: 08.05.25
[2]https://www.saferinternet.at/fileadmin/redakteure/Safer_Internet_Day/Safer_Internet_Day_2023/Infografik_Fake_News_2023.pdf, letzter Zugriff: 08.05.25
[3] Cook, J. (2017). Understanding and countering climate science denial. Journal Proceedings of the Royal Society of New South Wales, 150(2), 207–219.
[4] Metzger, M. J., Flanagin, A. J., & Medders, R. B. (2010). Social and Heuristic Approaches to Credibility Evaluation Online. Journal of Communication, 60(3), 413–439. https://doi.org/10.1111/j.1460-2466.2010.01488.x
[5] Todd, P. M., & Gigerenzer, G. (2000). Précis of Simple heuristics that make us smart. Behavioral and Brain Sciences, 23(5), 727–741. https://doi.org/https://doi.org/10.1017/S0140525X00003447
[6] Dietz, D., Petter, A. & Bolte, C. (2024). Strategien zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Online-Quellen. In: H. Van Vorst (Hrsg.), Frühe naturwissenschaftliche Bildung (S. 278–281). Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik, Jahrestagung 2023 in Hamburg. Essen: Universität Duisburg-Essen.
[7] Hilligoss, B., & Rieh, S. Y. (2008). Developing a unifying framework of credibility assessment: Construct, heuristics, and interaction in context. Information Processing and Management, 44(4), 1467–1484. https://doi.org/10.1016/j.ipm.2007.10.001
[8] Wineburg, S., Breakstone, J., McGrew, S., Smith, M. D., & Ortega, T. (2022). Lateral Reading on the Open Internet: A District-Wide Field Study in High School Government Classes. Journal of Educational Psychology, 114(5), 893–909. https://doi.org/10.1037/edu0000740
[9] McGrew, S., Ortega, T., Breakstone, J., & Wineburg, S. (2017). The Challenge That’s Bigger Than Fake News: Civic Reasoning in a Social Media Environment. American Educator, 41(3), 4–9.
[10] https://www.duh.de/goldenergeier/2023/, letzter Zugriff: 08.05.25
[11] https://www.bioeinweggeschirr.de/, letzter Zugriff: 08.05.25
[12] Umweltbundesamt (2018). Gutachten zur Behandlung biologisch abbaubarer Kunststoffe. Verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/421/publikationen/18-07-25_abschlussbericht_bak_final_pb2.pdf letzter Zugriff: 08.05.25
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Polylactide, letzter Zugriff: 08.05.25
[14] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2017). Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf letzter Zugriff: 08.05.25
[15] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2018). Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf, letzter Zugriff: 08.05.25


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Letzte Überarbeitung: 18. Mai 2025, Fritz Franzke