Beim Experimentieren den Allgemeinen
Warnhinweis
unbedingt beachten.
Chemie lernen zwischen Bunsenbrenner und Browser: Die Recherche glaubwürdiger Informationen im
Internet
Dennis Dietz
Ein zentraler Bildungsauftrag des Unterrichtsfachs Chemie besteht darin, die Schüler*innen zur
„Beurteilung von historischen, aktuellen, und zukünftigen Umwelt-, Verbraucher-, Ressourcen- oder
Alltagsfragen [sowie] von kulturellen und technischen Entwicklungen“ zu befähigen [1, S. 11]. Diese
Urteilsfähigkeit – die auch aus bildungstheoretischer Perspektive als Ziel allgemeiner Bildung zu sehen
ist – spiegelt sich in den Bildungsstandards des Kompetenzbereichs „Bewertungskompetenz“ wider. Im
Bildungsstandard B2 heißt es, dass die Lernenden „die Inhalte verwendeter Quellen und Medien (z. B.
anhand der fachlichen Richtigkeit und Vertrauenswürdigkeit [beurteilen]“ [1, S. 18] können sollen. Da
das Internet die Hauptinformationsquelle für Schüler*innen darstellt [u.a. 2], ist es dringend
erforderlich, die Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet mit den Schüler*innen auch im
Chemieunterricht zu üben.
Im Monatstipp Dezember 2023 habe ich vor diesem Hintergrund bereits das
FLICC-Modell (zu Deutsch: PLURV-Modell) von Cook [u.a. 3] vorgestellt, mit dessen Hilfe Schüler*innen
das Identifizieren von Desinformationen erlernen können.
In diesem Beitrag werde ich ausgehend von ausgewählten theoretischen Betrachtungen aufzeigen, wie
man Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet fördern und diese
Kompetenzförderung sinnstiftend und zeitökonomisch mit der Vermittlung von chemischen Fachinhalten
verknüpfen kann.
Recherche von Laien vs. Recherche von professionellen
Faktencheckern
Wenn Laien im Internet recherchieren, greifen sie auf Heuristiken zurück [4]. Unter Heuristiken
versteht man „einfache Regeln im adaptiven Werkzeugkasten des Geistes, um Entscheidungen mit
realistischen mentalen Ressourcen zu treffen“ [5, S. 727, übers. d. A.]. Typische Heuristiken sind das
Betrachten der Ästhetik und der Aktualität einer Webseite [u.a. 4,6,7]. Darüber hinaus nehmen Laien die
Reputation des Autors/der Autorin oder Empfehlungen von Organisationen (wie bspw. Stiftung Warentest) in
den Blick [u.a. 4,6,7]. Wenn der Eindruck gewonnen wird, dass etwas verkauft werden soll oder wenn die
dargelegten Informationen nicht mit dem eigenen Vorwissen übereinstimmen, dann neigen Laien dazu, die
Glaubwürdigkeit einer Webseite als eher gering einzuschätzen [u.a. 4,6,7]. Zweifelsohne sind
Heuristiken, wie das Überprüfen der Ästhetik, nicht zielführend dafür, die Glaubwürdigkeit von
Informationen einer Webseite korrekt einzuschätzen.
Professionelle Faktenchecker gehen grundsätzlich anders bei der Online-Recherche von Informationen
vor [8]. Wineburg und Kollegen haben professionelle Faktenchecker bei ihrer Arbeit begleitet und drei
zentrale Inhaltsdomänen identifiziert, die für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von
Online-Information von zentraler Bedeutung sind [8].
- „Footing“: Darunter verstehen Wineburg und Kollegen das notwendige Basiswissen des Recherchierenden
über das Internet, das für eine erfolgreiche Recherche benötigt wird. Zu diesem Basiswissen gehört
u.a., dass jeder Mensch jederzeit Informationen verbreiten kann, ohne dass diese von Expert*innen
geprüft werden müssen. Wichtig ist auch Wissen darüber, wie Online-Suchmaschinen funktionieren und
dass die ersten Webseiten, die eine Online-Suchmaschine anzeigt, nicht zwangsläufig auch glaubwürdig
sein müssen [8].
- „Taking Bearings“: Professionelle Faktenchecker nutzen eine Reihe zeitsparender Strategien, um einen
schnellen Überblick über die Vielzahl an Ergebnissen von Online-Suchmaschinen zu erhalten. Eine
bedeutsame Strategie ist das „click restraint“. Darunter versteht man das bewusste Widerstehen, die
ersten Ergebnisse einer Online-Suchmaschine auszuwählen, da die Positionierung von Webseiten in
Suchmaschinenergebnissen ausschließlich durch Bezahlung oder spezielle Verfahrensschritte des SEO
(„search engine optimization“) zustande kommt, und unabhängig von der Glaubwürdigkeit zu betrachten
ist [8].
- „Lateral Reading“: Im Gegensatz zum klassischen Lesen von oben nach unten (dem vertikalen Lesen),
werden beim „Lateral Reading“ (dem Querlesen oder auch horizontalen Lesen) einzelne Informationen
gezielt geprüft. Dazu werden mehrere Registerkarten des Webbrowsers geöffnet und drei zentrale Fragen
geklärt: 1. Wer steckt hinter der Information? 2. Was ist die Evidenz? 3. Was sagen andere Quellen
aus? [8]
„Lateral Reading“: Im Gegensatz zum klassischen Lesen von oben nach unten (dem vertikalen Lesen), werden
beim „Lateral Reading“ (dem Querlesen oder auch horizontalen Lesen) einzelne Informationen gezielt geprüft.
Dazu werden mehrere Registerkarten des Webbrowsers geöffnet und drei zentrale Fragen geklärt: 1. Wer steckt
hinter der Information? 2. Was ist die Evidenz? 3. Was sagen andere Quellen aus? [8]
- die funktionale Auswahl von Quellen aus Suchmaschinenergebnissen,
- die funktionale Auswahl von Quellen aus Suchmaschinenergebnissen,
- die geeignete Nutzung von Wikipedia
zu unterrichten.
Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen in einer
dreiteiligen Unterrichtssequenz fördern
Auf Grundlage der zuvor ausgeführten theoretischen Betrachtungen zur Recherche glaubwürdiger
Informationen im Internet lässt sich die in Tabelle 1 dargestellte dreiteilige allgemeine Unterrichtssequenz
ableiten.
Teil |
Fachinhalt |
Methoden |
1 |
Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer ausgewählten Webseite |
Lesen einer Webseite und Reflexion der eigenen Glaubwürdigkeitseinschätzung |
2 |
Strategien professioneller Faktenchecker 1: „SEO und click restraint“ |
Erstellen einer suchmaschinenoptimierten Webseite zu einem Thema |
3 |
Strategien professioneller Faktenchecker 2: „Lateral Reading“ und „Wikipedia“ |
Durchführen eines Faktenchecks und Recherche von Quellen in Wikipedia |
Tab. 1: Allgemeine dreiteilige Unterrichtssequenz zum Erlernen der Recherche
glaubwürdiger Informationen im Internet
Um im Sinne der konstruktivistischen Lernauffassung an das Vorwissen anzuknüpfen, bekommen die
Schüler*innen in einem ersten Schritt die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit einer ausgewählten Webseite
einzuschätzen und ihre Glaubwürdigkeitseinschätzung zu reflektieren (Teil 1). In diesem Zusammenhang können
sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie für Glaubwürdigkeitsentscheidungen auf einfache, nicht immer
effektive Heuristiken zurückgreifen.
Daran anknüpfend können Strategien professioneller Faktenchecker behandelt werden. Durch das Erlernen
von Methoden der Suchmaschinenoptimierung für Webseiten können Schüler*innen dafür sensibilisiert werden,
dass eine hohe Positionierung einer Webseite in Suchmaschinenergebnissen kein glaubwürdigkeitserzeugendes
Merkmal ist (Teil 2). Da eine Möglichkeit der Suchmaschinenoptimierung das häufige Verwenden zentraler
Begriffe ist, kann in diesem Zusammenhang auch die Vernetzung verschiedener Begriffe zu einem Lerninhalt –
und damit das erfolgreiche Erlernen von Konzepten – angebahnt werden.
Zum Abschluss der dreiteiligen Unterrichtssequenz sollen die Schüler*innen das „Lateral Reading“
erlernen und aktiv erproben, indem sie Inhalte von ausgewählten Webseiten überprüfen (Teil 3). Für diese
Überprüfung werden sie angehalten, wie professionelle Faktenchecker auch, das Literaturverzeichnis von
Wikipedia heranziehen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit zum Teil irreführenden oder auch gänzlich
falschen Aussagen kann eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt forciert werden.
Am Beispiel des Themas „Kunststoffverwertung“
Am Beispiel des Themas „Kunststoffverwertung“
Teil |
Fachinhalt |
Methoden |
1 |
Werkstoffliches Recycling |
Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Webseite https://diekreislaufflasche.de/ und Reflexion der eigenen
Glaubwürdigkeitsentscheidung |
2 |
Rohstoffliches Recycling |
Prüfen von Aussagen zur Bioabbaubarkeit von beworbenen Kunststoffprodukten und
Vergleich mit im Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien zur Bioabbauraten des
Kunststoffs |
3 |
Bioabbaubarkeit von Kunststoffen |
Prüfen von Aussagen zur Bioabbaubarkeit von beworbenen Kunststoffprodukten und
Vergleich mit im Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien zur Bioabbauraten des
Kunststoffs |
Tab. 1: Das Erlernen der Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet innerhalb des
Themenfelds „Kunststoffchemie“
Im ersten Teil der Unterrichtssequenz setzen sich die Schüler*innen mit dem werkstofflichen Recycling
auseinander, indem sie am Beispiel der Webseite einer Supermarktkette die Vor- und Nachteile von
Plastikeinweg- und Mehrwegflaschen diskutieren. Nach der persönlichen Glaubwürdigkeitsentscheidung zu der
Webseite wird den Schüler*innen offenbart, dass die Werbung der Supermarktkette von der Deutschen
Umwelthilfe (DUH) im Jahr 2023 für den Goldenen Geier – einem jährlich vergebenen Preis für die laut DUH
dreisteste Umweltlüge – nominiert wurde [10]. Die Schüler*innen reflektieren, wie sie durch die Anwendung
von Heuristiken zu ihrer Glaubwürdigkeitsentscheidung gekommen sind, und es wird die Notwendigkeit
herausgearbeitet, im folgenden Unterrichtsverlauf Strategien für eine zielführende
Glaubwürdigkeitseinschätzung zu erlernen.
Im zweiten Teil bekommen die Schüler*innen die Aufgabe, sich mit einem ausgewählten rohstofflichen
Recyclingverfahren zu beschäftigen und ein Konzeptpapier für eine suchmaschinenoptimierte Webseite eines
Unternehmens zu entwickeln. Auf diese Weise können neben fachwissenschaftlichen auch Kompetenzen aus dem
Kompetenzbereich „Kommunikationskompetenz“ gefördert werden. An dieser Stelle bietet sich die Kooperation
mit dem Unterrichtsfach Informatik an, sodass Schüler*innen ihre Konzeptpapiere auch praktisch umsetzen
können.
Im dritten und letzten Teil lernen die Schüler*innen das Konzept der Bioabbaubarkeit von Kunststoffen am
Beispiel des Biokunststoffs PLA kennen. Viele Anbieter von PLA-Produkten werben damit, dass ihre Produkte
biologisch abbaubar und kompostierbar sind [u.a. 11]. Die biologische Abbaubarkeit ebenso wie die
Kompostierbarkeit von PLA ist jedoch stark von äußeren Faktoren (wie Temperatur, Boden- oder
Wasserzusammensetzung bzw. Kompostzusammensetzung, etc.) abhängig [u.a. 12]. Mit Hilfe des „Lateral Reading“
und den im englischsprachigen Literaturverzeichnis von Wikipedia aufgeführten Studien [13] können
Schüler*innen irreführende Aussagen von Anbietern identifizieren und das Konzept der Bioabbaubarkeit
konstruieren.
Fazit
Die Förderung von Kompetenzen zur Recherche glaubwürdiger Informationen im Internet ist eine
Schlüsselkompetenz für Schüler*innen, um urteilsfähig und damit zu mündigen Bürger*innen zu werden. Nicht
ohne Grund werden Kompetenzen zur erfolgreichen Online-Recherche auch in den Strategiepapieren bzw.
Beschlüssen der Kultusministerkonferenz zur „Bildung in der digitalen Welt“ [14] sowie zur „Demokratie als
Ziel, Gegenstand und Praxis historisch politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ [15] aufgeführt und
als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer deklariert. Dementsprechend hat auch der Chemieunterricht
hierzu einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die im Rahmen dieses Monatstipps vorgestellte allgemeine
dreiteilige Unterrichtssequenz ist nicht auf das Thema „Kunststoffverwertung“ beschränkt, sondern lässt sich
auf zahlreiche weitere Fachinhalte (auch die anderer Unterrichtsfächer) übertragen.
Literatur:
[1] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.
Bildungsstandards im Fach Chemie für die Allgemeine Hochschulreife. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2020/2020_06_18-BildungsstandardsAHR_Chemie.pdf,
letzter Zugriff: 08.05.25
[2]https://www.saferinternet.at/fileadmin/redakteure/Safer_Internet_Day/Safer_Internet_Day_2023/Infografik_Fake_News_2023.pdf,
letzter Zugriff: 08.05.25
[3] Cook, J. (2017). Understanding and countering climate science denial. Journal Proceedings of the
Royal Society of New South Wales, 150(2), 207–219.
[4] Metzger, M. J., Flanagin, A. J., & Medders, R. B. (2010). Social and Heuristic Approaches to
Credibility Evaluation Online. Journal of Communication, 60(3), 413–439. https://doi.org/10.1111/j.1460-2466.2010.01488.x
[5] Todd, P. M., & Gigerenzer, G. (2000). Précis of Simple heuristics that make us smart. Behavioral
and Brain Sciences, 23(5), 727–741. https://doi.org/https://doi.org/10.1017/S0140525X00003447
[6] Dietz, D., Petter, A. & Bolte, C. (2024). Strategien zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von
Online-Quellen. In: H. Van Vorst (Hrsg.), Frühe naturwissenschaftliche Bildung (S. 278–281).
Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik, Jahrestagung 2023 in Hamburg. Essen: Universität
Duisburg-Essen.
[7] Hilligoss, B., & Rieh, S. Y. (2008). Developing a unifying framework of credibility assessment:
Construct, heuristics, and interaction in context. Information Processing and Management, 44(4),
1467–1484.
https://doi.org/10.1016/j.ipm.2007.10.001
[8] Wineburg, S., Breakstone, J., McGrew, S., Smith, M. D., & Ortega, T. (2022). Lateral Reading on the
Open Internet: A District-Wide Field Study in High School Government Classes. Journal of Educational
Psychology, 114(5), 893–909. https://doi.org/10.1037/edu0000740
[9] McGrew, S., Ortega, T., Breakstone, J., & Wineburg, S. (2017). The Challenge That’s Bigger Than Fake
News: Civic Reasoning in a Social Media Environment. American Educator, 41(3), 4–9.
[10] https://www.duh.de/goldenergeier/2023/, letzter Zugriff:
08.05.25
[11] https://www.bioeinweggeschirr.de/,
letzter Zugriff: 08.05.25
[12] Umweltbundesamt (2018). Gutachten zur Behandlung biologisch abbaubarer Kunststoffe.
Verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/421/publikationen/18-07-25_abschlussbericht_bak_final_pb2.pdf
letzter Zugriff: 08.05.25
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Polylactide,
letzter Zugriff: 08.05.25
[14] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
(2017). Bildung in der digitalen Welt. Strategie der
Kultusministerkonferenz. Verfügbar unter:
https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf
letzter Zugriff: 08.05.25
[15] Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
(2018). Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch politischer Bildung und Erziehung in der
Schule. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf,
letzter Zugriff: 08.05.25
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