von Heinrich Schönemann ©
Neukirchen-Vluyn
"Was für den Mechaniker das Eisen ist, ist für den Chemiker die Schwefelsäure, also
das Wichtigste". Diese Redensart stammt zwar aus der Mitte des letzten
Jahrhunderts, sie ist aber noch heute gültig: Schwefelsäure ist nach wie vor die
bedeutendste Industriechemikalie, sie wird in vielen Ländern der Welt hergestellt und
ist die billigste Säure, die in großen Mengen produziert wird [1,2].
Herstellung und Verbrauch waren in der Vergangenheit eng mit der industriellen
Entwicklung des jeweiligen Landes verknüpft: Je mehr produziert wurde, desto höher
war der technische Standard des Landes; die Schwefelsäureproduktion war damit
ein Indikator der technischen Entwicklung. Das ist zwar heute nicht mehr so, aber die
Rolle der Schwefelsäure als Schlüsselchemikalie ist geblieben.
Die Schwefelsäure ist seit dem 13. Jahrhundert bekannt. Man erhielt sie durch
Erhitzen von Vitriolen. So nannte man einige - meistens farbige - Mineralien, die,
wenn sie in großen Kristallen vorliegen, glasartig durchsichtig sind (lat. vitreus;
Glas). Man kannte den grünen Vitriol (FeSO4 · 7 H2O),
den blauen (CuSO4 · 5 H2O) und den weißen
(ZnSO4 · 5 H2O). Auch heute heißen die Sulfate zweiwertiger
Metalle so. Ein anderer Ausgangsstoff war der Alaun
(KAl(SO4)2 · 12 H2O). Dieser Mineralname stand dann
später Pate für die Bezeichnung Aluminium.
Während des Dreißigjährigen Krieges wollte der deutsche Chemiker Rudolph
Glauber (1604-1670) seinen Landsleuten zeigen, dass sie die schrecklichen Folgen
dieses Krieges wie Hunger, Armut und Zerstörungen durch die Anwendung der
Chemie und die Ausnutzung der Bodenschätze beheben könnten. Eines seiner
vielen Bücher trug deshalb den für ein Chemiebuch sicher ungewöhnlichen Titel
Teutschlands Wolfart (Deutschlands Wohlfahrt; 1656).
Glauber untersuchte auch die Schwefelsäure-Bildung genauer und stellte fest, dass
bei der Destillation der verschiedenen Vitriole immer das Gleiche geschah: Es
entwich ein weißer Rauch, der spiritus vitrioli (Geist des Vitriols); dieser gab mit
etwas Wasser eine dickflüssige, ölartige Substanz, oleum vitrioli oder auch Vitriol-Öl
genannt (lat. oleum; Öl). Heute wissen wir: Bei der Destillation der Vitriole entsteht
Schwefeltrioxid, das mit Wasser zu Schwefelsäure reagiert. Auch heute heißt eine
bestimmte, hochkonzentrierte Form der Schwefelsäure Oleum.
Dieses Oleum ließ er auf Kochsalz (lat. sal) tropfen: Wieder entwich ein flüchtiger
Stoff, diesmal der spiritus salis. Mit Wasser zusammen entstand eine sehr
aggressive Säure, die Säure aus dem Kochsalz: Damit hatte er konzentrierte
Salzsäure hergestellt; ihr Name verweist auf diese Reaktion. Gleichzeitig entstand
dabei Natriumsulfat (Na2SO4 · 10 H2O). Dieses Salz wurde für viele Zwecke,
besonders in der Medizin, eingesetzt (es wirkt als Abführmittel!) und machte dadurch
als sal mirabile Glauberi (Glaubers Wundersalz) Furore. Auch heute kann man es
noch als Glaubersalz kaufen.
Ließ er Oleum auf Salpeter (KNO3, alter Name: Nitrum,
vgl. Kaliumnitrat [3]) einwirken, dann entwich ein rotbraunes Gas, der spiritus nitri
(Geist des Salpeter, Stickstoffdioxid). In Wasser geleitet ergab dieser konzentrierte
Salpetersäure. Sie war u. a. für Goldschmiede interessant: Sie löst zwar Silber auf, aber nicht Gold,
diente also zum Unterscheiden beider Metalle (Scheidewasser). Ein Gemisch aus
Salz- und Salpetersäure ist so aggressiv, dass es auch den König der Metalle (Gold)
auflöst (Königswasser).
Um 1650 entstanden nun die ersten größeren Produktionsstätten für Schwefelsäure,
zunächst in Nordhausen (Harz), dann im Erzgebirge und im Vogtland [4]. Dabei war
das Nordhäuser Vitriol-Öl für etwa 200 Jahre der Marktführer. In tönernen Retorten
wurde der grüne Vitriol umgesetzt (siehe vorherige Abbildung); zurück blieb ein rotes Pulver, das
caput mortuum (Totenhaupt), das als Malerfarbe verkauft wurde. Dabei handelt es
sich um Eisen(III)-oxid: Im Verlauf der Destillation war das Eisen von der
zweiwertigen zur dreiwertigen Stufe oxidiert worden.
In England begann die Schwefelsäure-Produktion etwa 100 Jahre später: Die nun
industriell und in großem Umfang hergestellten Textilien mussten gebleicht werden.
Vorher wurden sie mit Sauermilch angesäuert und auf großen Rasenflächen der
Sonne ausgesetzt. Das war natürlich sehr aufwendig und dauerte monatelang.
Einfacher und schneller ging es, wenn man statt der Milch verdünnte Schwefelsäure
verwendete.
England hatte aber keine Vitriol-Vorkommen (Ausnahme: Alaun). Deshalb führte
man elementaren Schwefel aus Sizilien ein und verbrannte ihn. Dabei entsteht
allerdings bekanntlich nur Schwefeldioxid. Um Schwefeltrioxid zu erhalten,
vermengte man den Schwefel mit etwas Salpeter als zusätzlichem Oxidationsmittel.
Das Reaktionsprodukt wurde dann auf Wasser geleitet. Auch dieses Verfahren war
seit dem Mittelalter bekannt; es wurde damals jedoch in nur kleinem Maßstab in
zerbrechlichen Glasgefäßen durchgeführt.
1746 begann man nun in Birmingham mit der industriellen Nutzung dieses
Verfahrens: Die Glaskolben ersetzte man durch Kammern, die mit Blei
ausgeschlagen waren, dem einzigen Gebrauchsmetall, das den hier auftretenden,
sehr aggressiven Dämpfen und der Schwefelsäure widersteht, da es sich mit einer
Schutzschicht aus Bleisulfat (PbSO4) überzieht (nächstes Bild). Dieses
Bleikammerverfahren wurde dann weiterentwickelt: Die umständliche und teure
Salpeterzugabe vermied man, als man erkannte, dass auch Stickstoffdioxid das
Schwefeldioxid zum -trioxid oxidiert. Es wird dabei selbst zum Monooxid (NO)
reduziert; dieses reagiert sofort mit Luftsauerstoff wieder zum Dioxid und greift dann
in den Prozess erneut ein: Letzten Endes wird durch diesen Trick das Schwefeldioxid
durch den Luftsauerstoff weiteroxidiert; die nitrosen Gase wirken dabei als
Katalysatoren.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stieg die Schwefelsäurenachfrage stark an: Man
brauchte nämlich plötzlich große Mengen an Natriumsulfat, und die konnte man
leicht nach dem Glauber-Verfahren aus Kochsalz und Schwefelsäure herstellen.
Soda (Na2CO3), ein begehrter Ausgangsstoff für Glas und Seife, war - nicht zuletzt
wegen des steigenden Hygienebewußtseins der Bevölkerung - knapp und teuer
geworden, und man suchte nach Möglichkeiten, diesen Stoff künstlich herzustellen.
1775 hatte die Französische Akademie der Wissenschaften einen Preis dafür
ausgesetzt. Dem französischen Arzt und Chemiker Nicolas Leblanc (1742-1806)
gelang nach vielen Anläufen 1791 der Durchbruch: Er konnte ein Verfahren
patentieren lassen, bei dem aus Natriumsulfat über mehrere Reaktionen das
begehrte Natriumcarbonat hergestellt werden konnte (hier schließt sich der Kreis zu
Glauber!). Sofort wurden Fabriken errichtet, die Produktion lief an, und das
Verfahren erwies sich als so erfolgreich, dass es bis in dieses Jahrhundert hinein
genutzt wurde und vielen Leuten sehr viel Geld brachte - nur nicht dem Erfinder: Er
wurde um die Früchte seiner Arbeit betrogen und verübte aus Verzweiflung darüber
in einem Armenhaus Selbstmord.
Die Produktion der Englischen Schwefelsäure kam 1830 in eine Krise: Die Kosten
für sizilianischen Schwefel stiegen so stark, dass das Verfahren unrentabel
wurde. Deshalb wich man auf die riesigen Vorkommen von Schwefelkies (Pyrit,
FeS2) aus, die es damals vor allem im benachbarten Irland gab. Dieses Mineral
wurde abgeröstet (d.h. unter Luftzufuhr erhitzt) und lieferte dabei das Schwefeldioxid
für die Bleikammern [8, 9].
Heute kann man weder "Nordhäuser Vitriol" noch "Englische Schwefelsäure" kaufen:
Schwefelsäure wird jetzt nach dem Kontakt-Verfahren hergestellt. Dabei erfolgt die
Oxidation des Schwefeldioxid zum Trioxid mit Luftsauerstoff an der Oberfläche (dem
"Kontakt") eines festen Katalysators. Das Prinzip dieses Verfahrens wurde schon
1831 patentiert; dabei wurde Platin als Katalysator eingesetzt. Im Labor klappte das
gut, leider aber nicht im industriellen Großverfahren.
Das gelang erst etwa 50 Jahre später aus einem ganz unerwarteten Grund: In der
Mitte des letzten Jahrhunderts gab es erhebliche Auseinandersetzungen zwischen
den Eigentümern chemischer Fabriken und den Waldbesitzern: Die Abgase der
Fabriken, insbesondere das Schwefeldioxid, führten zu erheblichen Waldschäden.
Man sprach von der "Waldschadenkalamität".
Der saure Regen und das Waldsterben sind also keineswegs Errungenschaften der
Neuzeit - im Gegenteil, erste Berichte darüber gab es schon im 16. Jahrhundert! Ein
berühmter Prozess wegen dieser Waldschäden wurde z. B. 1863 von Waldbesitzern
gegen die Eigentümer einer Farbenfabrik in Schneeberg (Erzgebirge) angestrengt.
Der junge Chemiker Clemens Winkler (1838-1904; 1886 als Entdecker des
Elements Germanium berühmt geworden) bekam den Auftrag, das Schwefeldioxid
aus den Rauchgasen herauszuholen. Dazu ersann er verschiedene Verfahren und
überprüfte sie auch experimentell, und zwar nicht nur im Labor, sondern auch in der
Fabrikpraxis. Diese Arbeiten bildeten die Grundlage der modernen
Rauchgasentschwefelung: So wurde auch das heute gängigste Verfahren, die
Umwandlung von Schwefeldioxid in Gips, von ihm entwickelt. Er versuchte auch, aus
Schwefeldioxid Schwefelsäure herzustellen, um diese mit Gewinn zu verkaufen und
so die Unkosten zu decken. Sein von ihm entwickeltes Verfahren erwies sich zwar
als wenig geeignet, führte ihn aber auf eine andere Fährte: Er untersuchte dabei
nämlich intensiv die katalytische Oxidation des Schwefeldioxids zum Schwefeltrioxid
und entwickelte dabei 1875 die grundlegenden Voraussetzungen zur technischen
Durchführung dieses Prozesses. Aber es mussten noch viel Mühe und Zeit investiert
werden, hauptsächlich von dem BASF-Chemiker Rudolf Knietsch (1854-1906), bis
es 1890 endlich soweit war: Die erste Fabrik, die mit dem Kontakt-Verfahren
arbeitete, nahm in Ludwigshafen ihren Betrieb auf. Heute wird in der ganzen Welt
die Schwefelsäure nur noch nach diesem Verfahren produziert; 1995 waren es fast
150 Millionen Tonnen [11,12].
06.01.1998
Adresse des Autors:
StD. Dipl.-Chem. Dr. Heinrich Schönemann, Haarbeckstr. 26, 47506 Neukirchen-Vluyn.
Schuladresse: Gymnasium Adolfinum, Wilhelm-Schroeder-Str. 4, 47441 Moers.
(Dieser Artikel ist die Langfassung eines Schulbuchbeitrags [13].)
Literatur:
[1] |
J.A. Stöckhardt, Die Schule der Chemie, S. 154, 1846. |
[2] |
N.N. Greenwood, A. Earnshaw, Chemie der Elemente, S. 928, 1990. |
[3] |
N. Lemeri, Cursus Chymicus oder Vollkommener Chymist, S. 468, 1754. |
[4] |
ABC, Geschichte der Chemie, S. 278, 1989. |
[5] |
H. Wußing, Geschichte der Naturwissenschaften, S. 329, 1987. |
[6] |
D. Osteroth, Soda, Teer und Schwefelsäure, S. 32, 1985. |
[7] |
W. Strube, Der historische Weg der Chemie, S. 90, 1989. |
[8] |
F. Knapp, Lehrbuch der chemischen Technologie, Bd. 1, S. 198, 1847. |
[11] |
Cl. Winkler, Mitteilungen über die Versuche zur Beseitigung des Hüttenrauches
bei der Schneeberger Ultramarinfabrik, 1880, in: Clemens Winkler's Vorträge und
Abhandlungen über Abgase und Rauchschäden, Heft 8 der Reihe: Sammlung von
Abhandlungen über Abgase und Rauchschäden, S. 17, 1913. |
[12] |
Holleman-Wiberg, Lehrbuch der Anorganischen Chemie, S. 581, 1995. |
[13] |
Chemie für Gymnasien, Sachsen Kl. 10, Cornelsen-Verlag Berlin 1998 |