Zur Einführung: Was ist die Triebkraft von chemischen Reaktionen?

Experimente:
Versuch: Metalle reagieren mit Schwefel
Versuch: Abkühlung beim Lösen von Salzen
Versuch: Die exergone Reaktion zwischen festem Bariumhydroxid und Ammoniumthiocyanat


Lange Zeit galt das Prinzip von J. Thomsen und M. Berthelot von 1878, dass bei chemischen Reaktionen die frei werdende Energiemenge ("Wärmetönung") und die Beständigkeit der sich bei diesen Reaktionen bildenden Stoffe ein Maß für die chemische Affinität der beteiligten Elemente wären.

Das scheint bei vielen Reaktionen offensichtlich richtig zu sein. Wir erinnern uns z. B. an die Bildungsreaktion der Metallsulfide (-> Versuch). Silber reagiert mit Schwefel so, dass man es kaum merkt. Silbersulfid ist aber auch sehr instabil und zerfällt beim Erhitzen rasch wieder in seine Elemente. Zinksulfid dagegen reagiert heftig; Zinksulfid ist so stabil, dass er eher an der Luft verbrennt, als das es sich durch Erhitzen wieder spalten lässt. Silber hat also eine kleinere Affinität zu Schwefel als Zink.
Es gibt noch viele weitere derartige Experimente aus der Schulchemie.

Thomsen und Berthelot meinten also, in der Abnahme der Energie liegt die Stabilisierung des Systems begründet. Je größer die Abnahme ist, desto stabiler ist es. Schüler würden sagen: Je exothermer eine Reaktion ist, desto stabiler sind die Produkte. Und desto spontaner und freiwilliger sollte die Reaktion (wenn auch meistens erst nach Aktivierung) ablaufen.


Wie ist es dann aber mit endothermen Vorgängen?
Laufen die nicht auch freiwillig ab? Es war schon damals bekannt und den Wissenschaftlern bewusst, dass es Vorgänge gibt, bei denen Prozesse sozusagen gegen den Berg ablaufen. Da sei an das Trocknen der Wäsche im kalten Winter erinnert. Die dabei beobachtete Sublimation des Eises ist genauso ein freiwilliger Vorgang wie das Abkühlen von Wasser, in dem man Salze löst.

Was steckt dahinter? Offenbar finden hier Prozesse statt, bei denen die Unordnung des Systems zunimmt. Beim Sublimieren wird aus festen, hochgeordneten Eiskristallen Wasserdampf gebildet. Und die Salzkristalle lösen sich im sauberen Wasser und bilden "gasförmige" Ionen bzw. Ionen-Wasser-Aggregate (Hydrathüllen).

Eine thermodynamische Größe, die die Änderung des Ordnungszustands eines Systems zu beschreiben gestattet, ist die Entropie S. Sie steht mit der Enthalpie H, der klassischen Wärmetönung einer Reaktion, in folgendem Zusammenhang.

G = H - T · S

und bei Änderungen der Zustände

ΔG = ΔH - T · ΔS

G ist die nach dem Amerikaner J. W. Gibbs benannte Gibbs´sche Freie Energie oder Freie Enthalpie. Nur wenn ΔG negativ ist, kann der Prozess freiwillig ablaufen. Entscheidend ist oftmals nur die die Entropieänderung ΔS, genau der Term T · ΔS. Wir sehen, dass ganz besonders bei endothermen Vorgängen die Entropiezunahme besonders groß sein muss, damit sie freiwillig ablaufen können. Auch die Temperatur spielt eine wichtige (wenn auch manchmal nicht sofort überschaubare) Rolle.

Prozesse, die nach diesen Bedingungen freiwillig ablaufen, nennen wir exergon. Sie können durchaus von der Wärmetönung her endotherm sein (also ΔH > 0), wenn nur die Entropie ausreichend zunimmt, also ΔS (besser noch T · ΔS) positiv ist.


Auch endotherme chemische Reaktionen können exergon sein
Es gibt natürlich nicht nur physikalische Vorgänge wie die eben beschriebenen, sondern auch endotherme chemische Reaktionen, an denen man das Prinzip der Freien Energie erklären kann. Ein bekanntes Beispiel ist die Reaktion zwischen jeweils festem Bariumhydroxid-Octahydrat und Ammoniumthiocyanat. Mischt man beide Festkörper durch Schütteln, so verflüssigen sie sich und ein Geruch nach Ammoniak tritt auf (-> Versuch).

Ba(OH)2 · 8 H2O (fest) + 2 NH4SCN (fest) + Energie ———> Ba2+ (aq) + 2 SCN- (aq) + 2 NH3 (gasf) + 10 H2O (fl)

Dass die Wärmetönung ΔH negativ ist, erkennen wir daran, dass die Mischung stark abkühlt. Um entsprechenden Nachfragen gleich vorzubeugen: Hieraus könnte man zwar ein chemisches Kältekissen basteln. Leider ist es aber - anders als die Wärmekissen auf Natriumacetat-Hydrat-Basis - nicht reversibel.

Die Entropie S nimmt zu, weil aus zwei kristallinen, hoch geordneten Festkörpern eine weniger geordnete flüssige Phase mit gelösten Stoffen und zugleich gasförmiges Ammoniak entstanden sind. Flüssigkeiten und Gase zeigen eine geringe Ordnung als reine Festkörper. Auch Lösungen sind als Mischungen mit hoher Entropie gesegnet. Die beschriebene Reaktion ist also exergon.

Wie ist das mit der Entropie bei der Sulfidbildung?
Hier ist die Entropie bei allen in etwa gleich geblieben, weil zwei kristalline Festkörper zu einem neuen reagiert haben. So bleibt in diesem Fall ausschließlich die Wärmetönung, also die Enthalpie, als einzige Kenngröße für die Affinität zwischen Metall und Schwefel. So, wie der Däne Thomsen und der Franzose Berthelot allgemein formuliert hatten.


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Letzte Überarbeitung: 06. Dezember 2006, Dagmar Wiechoczek