Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie


Tipp des Monats Mai 2017 (Tipp-Nr. 239)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Alle Jahre wieder - Spargelzeit!
Altes und Neues aus der Welt des stinkenden Urins

Sabine Streller

Jedes Jahr, wenn im Frühling die Spargelzeit beginnt und wir uns über die frischen, weißen Sprösslinge hermachen, wird dieser Genuss von einem seltsamen Geruch begleitet, den unser Urin annimmt. Über das Phänomen des stinkenden Urins nach dem Verzehr von Spargel berichteten wir bereits. Viele Menschen empfinden diesen Geruch als überaus unangenehm, Marcel Proust dagegen beschrieb ihn mit blumigen Worten: Als wenn mein Nachttopf in eine Flasche Parfüm verwandelt wäre! Doch wie hat man eigentlich herausgefunden, welche Substanzen für diesen charakteristischen Geruch verantwortlich sind?

Bild 1: gekochter Spargel
(Foto: Streller)

Wie Prof. Nencki vor mehr als 100 Jahren seine Laboranten mit Spargel fütterte
Der Mediziner und Chemiker Marcel Nencki (1847-1901) war ein Mitbegründer der physiologischen Chemie [1]. Er beschäftigte sich mit den Zersetzungsprozessen von Eiweiß und anderen organischen Verbindungen im tierischen Körper sowie mit den Blutfarbstoffen, Harnstoff und Harnsäure. So entdeckte Nencki gemeinsam mit N. Sieber, dass bei der anaeroben Gärung von Eiweiß ein extrem stinkendes Gas entsteht, das Methylmercaptan [2]. Aufgrund der Ähnlichkeit des Geruchs von Urin nach dem Verzehr von Spargel vermutete Nencki Methylmercaptan als Ursache des Geruchs. Bereits einige Jahre zuvor hat A. Hilger versucht, der Ursache des Uringeruchs auf die Spur zu kommen und unterzog sich einem Selbstversuch [3]: „Drei Tage hindurch wurden nur Spargelsprößlinge genossen, mit Fett oder Essig und Oel zubereitet, nebst wenig Brod. Als Getränk diente ausschließlich Bier.“ Im Laufe dieser doch recht einseitigen Diät schied Hilger 5100 ml Harn aus, den er destillierte. Leider gelang es ihm nicht, „einen bestimmten Körper“ zu isolieren [3]. Marcel Nencki wiederholte den Versuch mit einigen Abwandlungen [2]: „Auf meine Bitte haben sich vier im Laboratorium arbeitende Herren bereit erklärt, statt ihrer Mittagsmahlzeit um 12 Uhr nur Spargel mit Butter, und zwar in der beträchtlichen Menge von 7 Kilo zu essen. Als Getränk wurde daneben Thee eingenommen.“ Bis 8 Uhr abends wurde der ausgeschiedene Harn der vier Herren gesammelt und anschließend aufgearbeitet, indem er „auf dem Sandbade destilliert wurde“ [2].

Aus dem Urin wurde das Methylmercaptan also durch Erhitzen ausgetrieben. Schauen wir uns nun einmal genauer an, wie Nencki das Methylmercaptan nachweisen konnte [2]:


„Hat man wenig Methylmercaptan zu erwarten, so ist es zweckmässig nur etwa 30 ccm der 3 proc. Cyanquecksilberlösung zu verwenden. Der erhaltene und gut ausgewaschene Niederschlag des Quecksilbersalzes wird noch feucht mit wenig Salzsäure aus einem Reagensröhrchen destillirt und die entweichenden Dämpfe in einige Cubikcentimeter frisch bereiteter 3 proc. Bleizuckerlösung geleitet. Sobald die Flüssigkeit siedet, geht das Methylmercaptan über und bildet, selbst wenn es nur in Spuren vorhanden ist, an dem Zuleitungsröhrchen, da wo es in die Bleilösung taucht, einen hellgelben, krystallinischen Beschlag. Gleichzeitig wird der charakteristische Geruch des Gases wahrnehmbar. Es ist rathsam, das Erhitzen nicht zu lange fortzusetzen, da später auch Salzsäure übergeht und das Bleimercaptid mit Chlorblei vermischt wird.“

Der Nachweis von Methylmercaptan
Diese schön und wortreich formulierte Beschreibung einer Reaktion ist heutzutage vielleicht nicht mehr zeitgemäß, aber sie bietet einen Anlass doch einmal genauer hinzuschauen, welche Prozesse abgelaufen sind. Bevor wir die Prozesse in einem Reaktionsschema darstellen, müssen wir erst einmal die von Nencki benannten Verbindungen identifizieren:

Name der Verbindung in Nencki, 1891 Name der Verbindung nach IUPAC 2017 Formel
Methylmercaptan Methanthiol CH3SH
Cyanquecksilber Quecksilber(II)-cyanid Hg(CN)2
Bleizucker Blei(II)-acetat Pb(CH3COO)2
Bleimercaptid Blei(II)-thiomethylat Pb(CH3S)2
Chlorblei Blei(II)-chlorid PbCl2

Der Ablauf der Reaktion, die Nencki zum Nachweis von Methylmercaptan durchgeführt hat, ist im folgenden Schema dargestellt und gleich viel übersichtlicher:

In Reaktion (1) wird das freigesetzte Methanthiol in eine Quecksilber(II)-cyanid-Lösung geleitet, wo es sich spezifisch mit den Hg2+-Ionen verbindet und als Quecksilber(II)-methylthiolat-Niederschlag ausfällt. Daher leitet sich übrigens auch der alte Name der Stoffklasse der Thiole ab: Früher wurden sie als Mercaptane bezeichnet. Dieser Name ist von mercurius captans, Quecksilber fangend, abgeleitet. Durch Erhitzen in salzsaurer Lösung wird in Reaktion (2) das Quecksilber(II)-methylthiolat wieder zersetzt und das erneut frei werdende Methanthiol reagiert mit den Pb2+-Ionen in der Blei(II)-acetat-Lösung zum stabilen Blei(II)-methylthiolat, früher als Bleimercaptid bezeichnet. Das Blei(II)-methylthiolat fällt in gelben Kristallen aus (siehe auch Bleijodid-Kristalle).

Der Verdienst von Marcel Nencki ist es, als erster einen Bestandteil des seltsam riechenden „Spargelurins“ nachgewiesen zu haben. Er selbst schreibt dazu 1891: „Die angeführten Thatsachen genügen aber, um mit größter Wahrscheinlichkeit das Methylmercaptan als die Ursache des eigenthümlichen Geruchs des Spargelurins anzusehen. Möglicherweise finden sich daneben noch Spuren anderer, schwefelhaltiger Producte. Es wird nun von Interesse sein, nach der Muttersubstanz des Methylmercaptans in den Spargelsprösslingen zu suchen“ [2]. Und dies hat man inzwischen auch erfolgreich getan: Mehr als 20 Verbindungen sind bis heute bekannt, die für den Geruch verantwortlich sind, gleichwohl ist die häufigste das Methylmercaptan [4].

Die Suche nach der „Muttersubstanz“ ist inzwischen beendet, sie ist in der Asparagusinsäure zu finden. Über den Abbau der Asparagusinsäure zum Methanthiol berichteten wir. Oft wird die Asparagusinsäure mit der Asparaginsäure verwechselt. Doch die schwefelfreie Aminosäure Asparaginsäure hat mit dem stinkenden Urin gar nichts zu tun.

Neues aus der Spargelurinforschung
Lange Zeit nahm man an, dass alle Menschen diesen seltsamen Geruch nach dem Verzehr von Spargel produzierten. Eine Arbeitsgruppe der University of Birmingham untersuchte 1987 in einer Studie, an der 800 Freiwillige teilnahmen, ob dies tatsächlich so ist. Die Freiwilligen aßen Spargel (aber nur noch 5 bis 6 Sprosse pro Person) und gaben den in den folgenden 4 Stunden produzierten Urin ab. Diese Urinproben wurden von drei Personen analysiert, indem sie daran schnüffelten. Auf diesem ungewöhnlichen Wege konnten Mitchell und Kollegen zeigen, dass nur ca. 43% der Freiwilligen geruchsintensiven Urin produzierten („excretors“) und die anderen nicht („non-excretors“). Das Verhältnis war allerdings bei Männern und Frauen gleich [5].

Von ganz anderen und zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen berichteten 2011 amerikanische Wissenschaftler, die verschiedene Studien auf diesem Gebiet, die in Frankreich, Amerika, Großbritannien, Israel und China durchgeführt wurden, gegenüberstellten [4]. Sie ergänzten die Vermutung, dass einige Menschen „Spargelurin“ produzieren und andere nicht um die weitere Vermutung, dass einige Menschen den Geruch vielleicht einfach nicht wahrnehmen können, ihn aber eigentlich produzieren. Außerdem nahmen sie an, dass sowohl in der Geruchsproduktion ganz individuelle Unterschiede bestehen als auch in der Fähigkeit der Rezeption des Geruchs. In der eigenen Studie der amerikanischen Wissenschaftler wurde außerdem eine DNA-Probe der Teilnehmenden untersucht, um eine mögliche genetische Ursache für diese Fähigkeiten auszumachen und Zusammenhänge zu olfaktorischen Rezeptoren zu finden. Aber auch diese Ergebnisse zeigen ein buntes Bild: Ungefähr 8% der Teilnehmenden haben nicht den charakteristischen Geruch produziert, ca. 6% konnten ihn nicht riechen. Ein Zusammenhang zu einem einzigen olfaktorischen Rezeptor, wie er für die Wahrnehmung von Fischgeruch bereits nachgewiesen ist, konnte auch nicht hergestellt werden. Die Autoren schließen mit der Feststellung: Die Ursachen für die individuellen Unterschiede in der Produktion des Geruchs von Spargelurin bleiben unbekannt [4].

Doch warum beschäftigen sich Wissenschaftler noch immer mit dem Geruch des Spargelurins?
Urin als einer der sogenannten Körpersäfte spielte schon bei Hippokrates für die Diagnose von Krankheiten eine große Rolle. Mit Hilfe der Urinschau, das beinhaltete die Beschreibung des Aussehens, des Geruchs und auch des Geschmacks, konnten Krankheiten wie z. B. Diabetes recht zuverlässig erkannt werden. Auch heute ist nach wie vor die Analyse des Urins ein wichtiges Diagnoseinstrument von Ärzten, auch wenn sie nicht mehr selbst daran riechen und kosten. In jüngeren Studien konnte sogar gezeigt werden, dass die Analyse von Urin zur Krebsfrüherkennung geeignet sein kann. Mäuse wurden auf den Geruch von Urin an Tumoren erkrankter Artgenossen trainiert und konnten anschließend treffsicher Urin erkrankter und nicht erkrankter Tiere unterscheiden [6]. Für die Forschung zur Krebsfrüherkennung sind also die Stoffwechselprozesse, die im Körper zur Produktion spezifischer Gerüche führen, sowie ihre Wahrnehmung von großer Bedeutung. Und so lässt sich erklären, dass die Spargelurinforschung noch immer stattfindet. Sicher wird diese Art der Grundlagenforschung auch noch einige Jahre weitergehen; und bis dahin genießen wir einfach unseren Spargel. Guten Appetit!


Quellen:
[1] Schwarz, Holm-Dietmar, "Nencki, Marcell von" in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 63-64 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118738461.html#ndbcontent (Stand 17.2.2017)
[2] M. Nencki (1891). Ueber das Vorkommen von Methylmercaptan im menschlichen Harn nach Spargelgenuss. Archiv für experimentelle Pathologie, Band 28, Heft 3, S. 206-209.
[3] A. Hilger (1874). Über abnorme Harnbestandtheile nach dem Genuß von Spargelsprößlingen. Liebig’s Annalen der Chemie und Pharmazie, Band 171, S. 208-210.
[4] M. L. Pelchat u.a. (2011). Excretion and perception of a characteristic odor in urine after asparagus ingestion: a psychophysical and genetic study. Chem. Senses 36:9-17.
[5] S.C. Mitchell u.a. (1987). Odorous urine following asparagus ingestion in man. Experientia 43, 382-383.
[6] Süddeutsche Zeitung: Der Geruch des Tumors (21.2.2012). http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/krebs-frueherkennung-der-geruch-des-tumors-1.59263 (Stand 25.2.2017)


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Letzte Überarbeitung: 15. April 2017, Fritz Meiners