Die magische „Sandformel“ – ein wenig entzaubert Uwe Lüttgens
Haben Sie in Ihrer Kindheit schon mal mit Sand und Wasser im Wohnzimmer gespielt? Sicherlich nicht! Falls doch, hoffe ich sehr, dass Ihre Eltern nichts gemerkt haben. Denn sonst hätte es bestimmt ein Donnerwetter gegeben ob der angerichteten Mantscherei in der guten Stube. Mit dem sogenannten „magischen Sand“ soll man dagegen auch im Wohnzimmer kreativ mit Sand spielen können. Ein Anbieter dieses besonderen Spielsandes wirbt jedenfalls: „Graben, Formen und Sandburgen bauen sind nun auch bei schlechtem Wetter kein Problem mehr, denn unser Indoor-Knetsand kombiniert die vorteilhaften Beschaffenheiten von Knete mit den besonderen Eigenschaften des Sands und besitzt somit eine optimale Formbarkeit, …“ [1] Bild 1: Ein Triceratops ("Dreihorn-Gesicht") im Sand, einmal mit „normalem“ Quarzsand und einmal mit „magischem“ Sand geformt
Nimmt man den magischen Sand zwischen die Hände, spürt man gleich, was daran so magisch ist: Er rieselt nicht wie „normaler“ Sand, stattdessen fließt er einfach durch die Finger. Sofort wird uns klar, warum der Sand häufig auch als „Kinetic Sand“ bezeichnet wird. Ins Deutsche übersetzt bedeutet dies wohl so viel wie „beweglicher“ oder „bewegter“ Sand.
Versuch: Sand und magischer Sand – hydrophil oder hydrophob? Materialien/Chemikalien:
Durchführung:
Beobachtung:
Hinweis:
Bild 2: Verhalten von Quarzsand (A, links) und „Kinetic Sand“ (B, rechts) mit Wasser (oben) und Ethanol (angefärbt, unten)
Dies spricht eindeutig gegen einen Stoff, der aus einzelnen Molekülen aufgebaut ist. Die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen wären auch kaum stark genug, diese in einem Sandkorn bis zu Temperaturen von über 1700 °C zusammenzuhalten – denn dann erst fängt Quarzsand an zu schmelzen. Tatsächlich handelt es sich bei Siliciumdioxid um ein dreidimensionales Netzwerk, in dem viele einzelne Siliciumatome über Sauerstoffatome miteinander verbunden sind. Quarz besteht also aus einem Atomgitter, in dem die Sauerstoffatome Brücken bilden zwischen Siliciumatomen Brücken bilden. Betrachtet man ein einzelnes Siliciumatom, so ist dieses tetraedrisch von vier Sauerstoffatomen umgeben. Umgekehrt sind alle O-Atome von zwei Si-Atomen umgeben. Die einzelnen SiO4-Tetraeder knüpfen über ihre Ecken ein räumliches Netz aus, das dem eines Diamant-Kristallgitters sehr ähnelt. Daher rührt seine große Härte. Bild 3: Zweidimensionales SiO2-Atomgitter und dreidimensionales Netzwerk aus tetraedrische SiO4-Baueinheiten
Könnte man alle Atome eines Sandkorns zählen, dann würde man feststellen, dass das Verhältnis zwischen Siliciumatomen und Sauerstoffatomen genau 1:2 wäre – entsprechend der Verhältnisformel SiO2. Schauen wir uns nun die Oberfläche eines Sandkorns genauer an: Es handelt sich um eine Grenzfläche, an der die fehlenden Siliciumatome an den Bindungsstellen der Sauerstoffatome ersetzt werden müssen. Diese Aufgabe nehmen Wasserstoffatome war. Bild 4: Modell der hydrophilen Oberfläche eines Sandkorns in Wasser (Grenzfläche orange gezeichnet, Wasserstoffbrückenbindungen rot gezeichnet)
Die Wasserstoff- und Sauerstoffatome an der Grenzfläche des Sandkorns können wiederum mit angrenzenden Wassermolekülen wechselwirken, indem sie sogenannte Wasserstoffbrückenbindungen eingehen. Jetzt verstehen wir, warum „normaler“ Quarzsand hydrophil ist.
Bild 5: Das Polymer Polydimethlysiloxan PDMS wird aus Dichlordimethylsilan synthetisiert.
Betrachten wir wieder die Oberfläche eines einzelnen Korns diesmal des magischen Sandes. Durch den Zusatz des Silikonöls muss die Grenzfläche chemisch so verändert worden sein, dass der sogenannte „oberflächenfreundliche, magische Sand“ entsteht. Wie kommt es zur Bindung zwischen Quarz und PDMS? Auffällig ist, dass nun keine freien OH-Gruppen mehr die Grenzfläche bilden. Vielmehr umschließen zahlreiche Methylgruppen -CH3 das Sandkorn wie eine Art wasserabweisender Schutzfilm. Bild 6: Modell der hydrophoben Oberfläche eines „magischen“ Sandkorns in Wasser (Grenzfläche orange gezeichnet, Wasserstoffbrückenbindungen rot gezeichnet)
Jetzt verstehen wir, warum sich „magischer“ Sand hydrophob verhält: Die mit Methylgruppen an der Oberfläche „beschichteten“ Sandkörner können keine Wasserstoffbrückenbindungen mit den sie umgebenden Wassermolekülen eingehen – sie sind dazu einfach zu unpolar. Folglich wird Wasser an der Oberfläche der behandelten Sandkörner regelrecht „abgewiesen“; das Wasser perlt nun ab.
Bild 7: In Wasser klumpt hydrophober Sand zusammen, Quarzsand verteilt sich hingegen fein
Häufig hört man zur Erklärung für diese hydrophobe Wechselwirkung folgendes: Die mit Polymethylsiloxan behandelten Sandkörner haften dank der zahlreichen, an den einzelnen Körnern außen liegenden, hydrophoben Methylgruppen zusammen. Ursache sind die, wenn auch jeweils schwachen, van-der-Waals-Kräfte, die mit zunehmender Kettenlänge jedoch einen spürbaren Effekt haben können. Das „Silikon“ soll dann wie eine Art Kleber zwischen den Sandkörnern wirken. Tatsächlich ist die Erklärung etwas komplizierter. Thermodynamisch gesprochen ist das Zusammenklumpen des magischen Sandes ein spontaner Prozess. Wir müssen von außen keine Arbeit verrichten. Spontan verläuft ein Prozess, wenn die Änderung der Freien Energie ΔG negativ ist. In der sogenannten Gibbs-Helmholtz-Gleichung ΔG = ΔH - TΔS gibt es zwei Terme: ΔH und TΔS. Ist ΔH negativ, spricht man von einer exothermen Reaktion, bei der Energie frei wird. In unserem Falle erwärmt sich jedoch das Wasser nicht, sodass die Enthalpieänderung ΔH nicht ins Gewicht fallen kann. Schauen wir uns nun den zweiten Term TΔS an. Die thermodynamische Zustandsgröße S – Entropie genannt – ist ein Maß für die Ordnung eines Systems. Nimmt ΔS positive Werte an, nimmt die Ordnung eines Systems ab, das Chaos zu. Denn der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass chemische und physikalische Prozesse stets in die Richtung verlaufen, in der die Unordnung eines Systems – in unserem Falle bestehend aus zwei Komponenten, dem Wasser und dem hydrophoben Sand – zunimmt. Wie kann es dann sein, dass sich die hydrophoben Sandkörner zusammenklumpen? Von Chaos und Unordnung ist doch keine Spur! Müssten sich die vielen einzelnen Körner nicht im Wasser willkürlich und unregelmäßig verteilen, wie es die erste Skizze zeigt? Seltsam ist, dass der Prozess genau in die umgekehrte Richtung verläuft, in Richtung zunehmender Ordnung: Die Ordnung nimmt sichtbar deutlich zu, wenn sich die einzelnen Körner im Wasser zu einem Klumpen zusammenfinden. Bild 8: Nimmt die Entropie ab, wenn magischer Sand im Wasser zusammenklumpt?
Energetisch günstig ist der hydrophobe Sandklumpen im Wasser. Denn die Unordnung nimmt im Wasser gleichzeitig enorm zu, während sie im geklumpten Sand abnimmt. Insgesamt ist also die Entropieänderung ΔS deutlich positiv und folglich die freie Energie ΔG negativ. Und damit verläuft der Prozess spontan ab, wie wir ja im Experiment beobachten konnten.
Mein Fazit: Ein wenig Chemie entzaubert zwar das Verhalten des magischen Sandes. Dem Spieltrieb – ob beim Burgenbauen im Wohnzimmer auf dem guten Teppich oder draußen im Sandkasten – sollte dies jedoch keinen Abbruch tun.
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