Bild 1: Klosterkirche Zwiefalten
(Foto: Blume)


Als Gips die Kunst bestimmte

Experimente:
Versuch: Arbeiten mit Gips
Versuch: Aushärten von Gips


Was wäre eine Rokoko-Kirche ohne ihre bunten Säulen aus Marmor? Dazu fallen die vielen Ornamente, die Muscheln, die sich einrollenden Schnecken, der Meeresschaum, die Ranken, Engel- und Heiligenfiguren und überfließenden Gesimse ins Auge. Dieser anscheinend verspielte Baustil war das Rokoko - der Name leitet sich wahrscheinlich vom franz. rocaille für Muschelwerk ab. Er prägte die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Bild 2: Blick in den Chor von St. Emmeran in Regensburg
(Foto: Blume)


Viele finden Rokoko-Kirchen chaotisch. Das Gegenteil ist richtig, wie die Klosterkirche zu Zwiefalten zeigt.

Bild 3


Sie besticht wie viele andere typische Rokoko-Kirchen wegen ihres durchkonstruierten Raumbilds:
- Die Säulen umrahmen den Altar wie ein Bühnenvorhang.
- Optische Fluchtlinien lenken den Blick auf den Tabernakel vor dem Chorgitter.
- Die Rokoko-Kirchen beeindrucken auch durch ihre Lichtführung.

Normalerweise haben die Baumeister den direkten Lichteinfall vermieden, wie das Zwiefaltenbild zeigt. Berühmt sind jedoch die Putto-Darstellungen in der Wies. Da schirmen sich am Eingang der Kirche zwei Putten die Augen ab, als wenn sie etwas blendete. Am anderen Ende der Kirche steht unter der Kanzel ein Putto, das winkt jemandem hinterher.

Um das zu verstehen, muss man die Wies früh morgens und spät abends besuchen: Die Puttos am Eingang schauen nach Osten. Sie werden vom ersten Sonnenstrahl des Morgens getroffen und geblendet. Das Engelchen unter der Kanzel wird vom letzten Sonnenstrahl des Abendlichts angestrahlt und winkt der untergehenden Sonne nach. All das hat der Baumeister Dominikus Zimmermann durch wohlüberlegte, kunstvolle Lichtführung erreicht.

Prüfend streift der Besucher mit der Hand über die bunten Säulen. Sie sind völlig glatt, fühlen sich aber gar nicht kalt an. Und man klopft daran: Es klingt gar nicht nach Stein, sondern eher dumpf und manchmal sogar hohl.

Dahinter verbergen sich die Stukkaturen (althochdeutsch stucki, Kruste, Rinde). Das sind die aus Stuckgips modellierten Wand- und Deckenbekleidungen. Sie ermöglichten, das zu verwirklichen bzw. zu imitieren, wovon ein Bauherr mit klammem Geldbeutel sowie sein Architekt nur träumen konnten.

Man kann vom ersten Anblick her nicht unterscheiden, ob etwas aus Stein gemeißelt, aus Holz geschnitzt, aus Gips geformt oder etwa nur gemalt ist. Diese Sinnestäuschung war beliebt im Barock und im Rokoko. Dieses "Trompe d´oeuil" wird deutlich, wenn Deckengemälde nahtlos in eine Statue hinübergehen, wenn z. B. ein gemaltes Engelchen sein Beinchen aus dem Himmel baumeln lässt. Hier lösen sich Architektur und Malerei ineinander auf und verschmelzen zu einem einheitlichen Ganzen. Ein wunderbares Beispiel hierzu ist auch das zentrale Deckengemälde von Tiepolo in der Würzburger Residenz. Ein anderes Beispiel für täuschende Luxusimitation findet man in der Semper-Oper in Dresden.

Die Säulen haben oft nur Schmuckcharakter und tragen kein Gewölbe; deshalb sind sie aus Holz verwendet worden. Man hat den Stuckgips (mit Leim angerührt) in mehreren Schichten auf die Holzsäule aufgetragen, immer wieder glatt geschliffen und sogar poliert. Die üppige Farbigkeit übertrifft oft sogar die des natürlichen bunten Marmors.


Die Handwerker
So waren die Stukkateure mit die wichtigsten Leute am Bau und als Fachleute sehr gesucht. Sie waren nicht nur hervorragende Handwerker, sondern zugleich auch Künstler. Sie hatten dazu noch rasch zu arbeiten, da ihnen der Gips unter den Händen aushärtete, und sie mussten deshalb die Form, die sie herstellen wollten, bis ins letzte Detail im Kopf haben.

Bild 4: Putten an der Kanzel der Wallfahrtskirche von Haigerloch
(Foto: Blume)


Ein Problem hatten auch die Freskenmaler. Oft genug war der Untergrund sehr schlecht. Z. B. bestanden die Decken auch der prunkvollen Kirchen aus schlichten Holzplanken, auf denen der Gips nicht besonders gut haftete. Sofort nach dem Auftragen musste der Stuck bemalt werden, da die Farbe nur in den frischen, feuchten Gips ((italienisch fresco, frisch, neu) gut einzog. Die Bilder, die sie malten, entstanden häufig im Liegen, und die Freskenmaler konnten die riesigen Deckengemälde nur quadratmeterweise erstellen. So war der Stukkateur dem Maler immer nur ein klein wenig voraus. Glücklicherweise konnte man den Stuckgips durch Farbzusatz gleichmäßig einfärben.

Die Stukkateure waren außerdem wahre Alchimisten, denn sie experimentierten herum, um den weichen Gips haltbarer zu machen und um seine Abbindezeit zu regulieren. So mischten sie Haare, Fasern oder Kalkmörtel und Leim dazu, wodurch man die Aushärtung verzögerte. Man legte auch Nesseltuch zwischen zwei Schichten und erreichte so höhere Haltbarkeit. Größere Figuren wurden aus Drahtnetzen vorgeformt und dann mit Gips aufgefüllt. Auch der Zusatz von Alaun wirkte sich härtend aus. So behandelter Gips konnte sogar poliert werden. Man konnte den Stuckgips auch durch Farbzusatz gleichmäßig einfärben.


Warum eigentlich formte man die Kirchen statt mit edlem Marmor aus Gips und Farbe?
Die Zeit war sehr prunkvoll ausgerichtet. Kleine Fürsten und andere Würstchen wollten dem Petersdom oder dem Schloss von Versailles nacheifern, hatten aber nicht genügend Geld. So konnte man es ja mit ein wenig Sinnestäuschung versuchen... Hinzu kommt die Freude der Kirchenbauer am Experimentieren mit Raum und Licht, was durch die leichte Architektur auf Stuckbasis möglich wurde. Prächtige Beispiele für dieses Konzept sind die bäuerlichen Kunstwerke wie die Wieskirche in Bayern sowie die Kirche in Steinhausen bei Ulm ("die größte Dorfkirche der Welt"): Aber auch die Wandelgänge der Semperoper in Dresden sind hier zu nennen. Sie rühren uns heute noch an und stimmen uns festlich, trotz des Pomps, der ab und zu abblättert. Und irgendwie wirkt Stuck wärmer, ja gemütlicher als der kalte Marmor à la Petersdom.

Das Arbeiten mit Stuck ist übrigens keine Erfindung des Rokoko. Auch die alten Ägypter kannten ihn, wie z. B. die abblätternden Grabbeigaben des Tut-ench-Amun zeigen. Dessen Uschebtis erhielten vor dem Vergolden mit Blattgold ihren letzten "Schliff" durch Stuckauftrag. Aber auch die Mumiensärge waren oft mit bemaltem Stuck überzogen.


Erweitert nach:
R. Blume, W. Kunze, H. Obst, E. Rossa und H. Schönemann: Chemie für Gymnasien Klasse 10 (Sachsen). Cornelsen Verlag, Berlin 1998.


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Letzte Überarbeitung: 02. Dezember 2009, Dagmar Wiechoczek