Prof. Blumes Tipp des Monats November 1999 (Tipp-Nr. 29)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Bild 1 (Foto: Daggi)


Was ist eigentlich Lackmus?

Vor einigen Tagen schickte mir Martin Zimmer vom Planet Interkom.de folgende E-Mail:
Ich suche schon seit Monaten verzweifelt nach der Strukturformel des Indikatorfarbstoffs in Lackmus. Wurde diese an der Uni Bielefeld schon einmal gesehen? Wenn ja, würde ich mich über selbige freuen.

Beim Lackmus handelt es sich bekanntlich um eine Allerwelts-Chemikalie. Jeder Schüler hat sicherlich mit ihr schon einmal Kontakt gehabt. Aus dem Chemieunterricht ist Lackmus vor allem als Indikatorfarbstoff mit dem weiten Umschlagsbereich 5-8 vertraut.

Versuch 1: Lackmus als Indikator
Gib in drei Reagenzgläser je 5 ml

  • Salzsäure (c = 1 mol/l)
  • Leitungswasser
  • Natronlauge (c = 1 mol/l)
und füge dann zu jedem Gläschen 5 ml gesättigte, filtrierte wässrige Lackmuslösung hinzu. Vermische gut.

Lackmus verwendete man übrigens nicht nur als Indikator. Dass man mit Lackmus aber seit etwa 1300 in Florenz und in den Niederlanden Kleiderstoffe färbte, soll nicht unerwähnt bleiben. Auch als Färbemittel für Lebensmittel, Liköre und Medikamente ist Lackmus bekannt. Er wurde sogar als den "Gilb" überstrahlendes Wäscheblau verwendet. Heute wird er aber nur noch als Indikator benutzt.


Wie sieht die Struktur von Lackmus aus? [2,3]
Bei dem Lackmusfarbstoff handelt es sich genau genommen um eine Gruppe von etwa 14 Stoffen mit einer Molmasse bis zu 3000 g/mol, die sehr kompliziert zusammengesetzt sind. Andererseits zeigen sie eine bemerkenswerte Regelmäßigkeit im Aufbau. Diese Farbstoffe konnten erst 1961 strukturell aufgeklärt werden! [1]

Ihr molekulares Zentrum gehört zur Klasse der Oxazine.


Oxazin

An dieses Oxazin sind formal zwei Moleküle des für Flechten typischen Diphenols Orcin gebunden.


Orcin

Das Zentrum des Farbstoffmoleküls sieht dann so aus:


Orcein

Dieses Molekül heißt Orcein. Die farbtragende Gruppe ist also ein substituiertes 7-Hydroxy-phenazin-2-on. Denkt man sich das O-Atom im Oxazinring weg, hat man ein Farbstoffmolekül vom Typ der Indophenole wie beim DCPIP, dem Nachweisreagenz auf Ascorbinsäure.

Im Lackmusfarbstoff sind 3 bis 5 Reste dieses Orceins über jeweils zwei weitere Orcinmoleküle verbrückt:


Ein typischer Lackmusfarbstoff

Anfang und Ende der Kette werden durch Chinone gebildet, die ebenfalls auf das Orcin zurückzuführen sind.


Ein typisches Orcinchinon

Insgesamt ergibt sich eine lange Kette von ungesättigten Verbindungen. Deren Wechselwirkung untereinander ist für die Farbigkeit verantwortlich. Diese Mesomerie wird noch durch die Starrheit der Kette gefördert. Denn die Bausteine behindern sich aufgrund ihrer Substituenten derartig, dass Drehungen um die Bindungen zwischen den aromatischen Kernen nicht mehr möglich sind.

Letztlich sind alle Teile des polymeren Lackmusfarbstoffs auf Orcin zurückzuführen. Denn auch das Orcein kann man aus Orcin herstellen, indem man dieses Diphenol mit Ammoniak und Wasserstoffperoxid behandelt. (Der Name Orcin kommt von Orseille-Farbstoff, der wie Lackmus typisch für Flechten ist; siehe unten.)


Zur Indikatorwirkung von Lackmus
Die Farbveränderung bei der Zugabe oder Wegnahme von Protonen (Halochromie) beruht auf der reversiblen Bildung von Phenolen (rot) aus Phenolaten (blau) sowie aus der Protonierung des Oxazinsystems.

Außerdem ändert sich zusätzlich auch noch die Tönung der für Lackmus charakteristischen Farben Rot und Blau, wenn man starke oder schwache Säuren bzw. Basen zum Lackmus gibt. Das resultiert aus der schrittweisen Anlagerung bzw. Entfernung weiterer Protonen.


Lackmus ist auch ein Redoxfarbstoff
Der Oxazinring erinnert stark an den Thiazinring, wie er z. B. im Methylenblau auftritt. Diesen Farbstoff kennst du vielleicht vom Überraschungsversuch "Blaues Wunder" oder aus der Biochemie. Methylenblau ist ein Redoxfarbstoff, der im oxidierten Zustand blau, im reduzierten farblos ist (Leukofarbstoff). Die gleichen Eigenschaften sollte man deshalb auch beim Lackmus erwarten. Reduktionsmittel ist Schwefelwasserstoff.

Versuch 2: Redoxverhalten von Lackmus
Leite in eine wässrige Lackmuslösung Schwefelwasserstoff (T+,F) ein. Nach etwa 30 min hat sich die zunächst kräftig rote Lösung entfärbt. Sie ist aufgrund des entstandenen Schwefels milchig trüb geworden.
Tropfe anschließend etwas Wasserstoffperoxid (w = 30 %) (C) zu. Die Lösung färbt sich rasch wieder rot.

Folgende Veränderungen sind im Orcein-Molekülrest bei der Redoxreaktion zu erwarten:


Reversible Redoxreaktion des Orceins

Die Elektronen stammen aus dem Reduktionsmittel:

H2S ———> 2 H+ + 2 e- + S

Woher kommt Lackmus eigentlich?
Lackmus und der verwandte Orseille-Farbstoff werden aus tropischen Flechten (Orseille-Flechten) gewonnen. In Küstenregionen ist z. B. die Rocella tinctoria (Name!) angesiedelt, in Gebirgsregionen findet man Lecanora subfusca sowie Ochrolechia tartarea (Kuchenflechte).

Lackmus ist allerdings kein direkter Flechtenfarbstoff, sondern wird erst durch künstliche und teilweise recht aufwendige Behandlung aus Flechteninhaltsstoffen hergestellt [5]. Dazu wird die gemahlene Flechte in einer wässrigen Lösung von Ammoniumcarbonat, Kaliumcarbonat und Kalkstein verrührt und unter gelegentlichem Zusatz von Ammoniak mehrere Wochen sich selbst überlassen, bis die Farbe der Lösung rein blau geworden ist ("Gärung").
Dieser Rohlackmus ist allerdings ein Gemisch aus einer Vielzahl von roten, violetten und farblosen Substanzen. Durch weitere Behandlung kann man diese Stoffe weiter auftrennen. Dabei gelangt man z. B. zum Azolitmin, einem lackmusähnlichen Farbstoff, der ebenfalls als Indikator genutzt wird.


Bild 2: Eine Lackmusprobe der Firma Fluka
(Foto: Daggi)


Rüdiger Blume


Weitere Tipps des Monats


Literatur:
[1] H. Musso et al.: Angew. Chemie 73, 665 (1961).
[2] F. Klages: Lehrbuch der Organischen Chemie, Band III, Walter de Gruyter & Co, Berlin 1967.
[3] W. Kratzert, R. Peichert: Farbstoffe, Quelle & Meyer, Heidelberg 1981.
[4] G. Natho et al.: Rohstoffpflanzen der Erde, Verlag Harri Deutsch, Thun und Frankfurt/Main 1986.
[5] Ullmanns Enzyklopädie der technischen Chemie, Band 7, München und Berlin 1956.


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Letzte Überarbeitung: 12. November 2009, Dagmar Wiechoczek