Wie wächst ein Kristall?

Experimente:
Versuch: Züchten von Impfkristallen
Versuchsgruppe: Züchten schöner Einzelkristalle
Versuch: Nachweis des Kristallwachstums durch Wägung
Versuch: Kochsalzkristalle im Eiltempo
Versuch: Schnelles Kristallwachstum mit Glaubersalz
Versuch: Kristalle aus alkoholischer Lösung von Salol
Versuch: Kristallwachstum durch Sublimation
Versuch: Modifikationen des kristallinen Schwefels
Versuch: Zinngeschrei und Schwefelknistern
Versuch: Kristalle reparieren sich selbst
Versuch: Resublimation von Wasserdampf


Du kannst dir vorstellen, dass Kristalle nicht plötzlich auftauchen, auch wenn es manchmal so aussieht (-> Versuch oder Versuch). In der Natur wachsen sie meist sehr langsam.

Kristalle bilden sich unter den verschiedensten Bedingungen:

Sie entstehen scheinbar aus dem Nichts - entweder mitten in der Lösung oder auf einer Oberfläche.


Am Anfang ist der Keim
Das Kristallwachstum beginnt mit der geordneten Zusammenlagerung der Kristallbausteine, also von Atomen, Molekülen oder Ionen, die sich zunächst in einem ungeordnetem Zustand befinden. Es entsteht ein für dich unsichtbarer Kristallkeim. Das Medium ist entweder eine abkühlende Schmelze, eine übersättigte, sich abkühlende Lösung oder (wie bei der Sublimation) übersättigter Dampf. Diese Zustände erreichst du, indem du entweder die Temperatur des Systems (z. B. der Schmelze, des Dampfraums, der Lösung) senkst oder Lösungsmittel verdunsten lässt.
Wenn du selbst Kristalle züchten möchtest, wirst du feststellen, dass Grenzflächen wie Gefäßwände, Oberflächen anderer Kristalle oder Wollfäden sowie andere Fremdpartikel den Phasenübergang von der ungeordneten in die geordnete feste Phase erleichtern.
Die in der Lösung entstandenen Keime wachsen zu Kristallen, die du mit dem bloßen Auge erkennen kannst.

Sie wachsen ähnlich, wie die alten Ägypter ihre Pyramiden aufbauten. Baustein auf Baustein wird getürmt. Das kann flächig geschehen oder spiralig. Dabei lagern sich die Bausteine Schicht für Schicht zu einem regelmäßigen, dreidimensionalen Gitter zusammen. Damit ein Kristall pro Tag etwa ein bis zwei Millimeter wächst, müssen sich in jeder Sekunde Hunderte von Teilchenschichten anlagern.

Eine Vorstellung vom Geschehen gibt das folgende Bild.

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Bild 1: Wachstumsflächen auf einem Kristall von Chromalaun
(Foto: Blume)


Die glatten Kristallflächen werden von Gitterebenen gebildet, und zwar von solchen, die besonders dicht mit Atomen besetzt sind und zwischen denen die relativ stärksten Bindungskräfte innerhalb der Struktur wirken. Glatte Gitterebenen sind energetisch günstiger als irgendeine unregelmäßige Anordnung der Atome an der Oberfläche.

Das kann man anhand von Tischtennisbällen oder mit Kugeln von Deo-Rollern zeigen. Wenn man die in eine Schale wirft, bilden sie mit etwas Schütteln hochgeordnete Strukturen.

Bild 2: Kugeln von Deo-Rollern als zweidimensionales Kristallmodell
(Foto: Blume)


Immer auf Kosten der Kleinen!
Große Kristalle wachsen auf Kosten der Kleinen. Denn verglichen mit den großen haben die kleinen ein ungünstigeres Oberflächen-Volumen-Verhältnis. D. h. ihr chemisches Potential ist höher, deshalb lösen sie sich eher auf. Das erkennt man auch, wenn man unterschiedlich große Zuckerkristalle (Streuzucker und Kandis) zusammen auflöst.
Lässt man in einer gesättigten Lösung große Kristalle neben kleinen liegen, so verschwinden die kleinen nach einigen Tagen völlig. Das nutzt man bei der Züchtung von schönen Impfkristallen aus.

Bild 3 (Foto: Daggi)


Kanten und Ecken bevorzugt: Kristall-Skelettwachstum
Ein hohes chemisches Potential besitzen auch die Kanten und Ecken von Kristallen. Das erkennt man vor allem daran, dass beim Lösen eines Kristalls die Kanten zuerst abgerundet werden. Der Kristall fühlt sich "weich" an. Umgekehrt wachsen die Kanten und Ecken zuerst; deshalb fühlen sie sich beim wachsenden Kristall besonders scharf und spitz an.
Ist die Konzentration der Bausteine in Lösung oder Gasphase wie sonst in den Schmelzen besonders hoch, kann man statt Flächenwachstum Kanten- und Spitzenwachstum beobachten. Man spricht übrigens von einem "Kristallskelett".

Dies ist besonders beim Schnee auffallend: Tieftemperaturschnee, der aus blauen, also scheinbar trockenem Himmel auf die Skipisten der Hochalpen fällt, besteht aus kleinen sechseckigen Prismen. Wenn der Wasserdampfgehalt aber sehr hoch ist, bilden sich sechseckige Schneesterne. Deren Form ist die Folge von bevorzugt an Kanten und Spitzen der sechseckigen Prismen ablaufendem Wachstum.

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Bild 4: Sechseckiges Prisma inmitten von Schneesternen
(Foto: Blume)


Kochsalz neigt zur Bildung von übersättigten Lösungen. Aus diesen hochkonzentrierten Lösungen bilden sich meist viereckige Hohlkristalle, die sogar sternartig aussehen können. Deswegen gelingt das Züchten von Kochsalzkristallen nicht immer.

Gießt man flüssiges Bismut nach Beginn der Kristallisation aus, so bleiben die zuerst gebildeten Hohlkristalle zurück.

Bild 5: Bismutkristalle
(Foto: Blume)


Hohlkristalle findet man auch in der Natur, wie z. B. von Markasit. Wenn man die Kristalle im folgenden Bild anschaut, versteht man, warum Markasit auch Spießglanz genannt wird.

Bild 6: Hohlkristalle von Markasit (Lengerich/Tecklenburger Land)
(Foto: Daggi)


Warum bildet Alaun Oktaeder und Kochsalz Würfel?
Würde ein Kristall in alle Richtungen gleich schnell wachsen, würden sich nur Kugeln bilden. Kristalle verfügen jedoch über richtungsabhängige Eigenschaften, und dazu gehört die Wachstumsgeschwindigkeit.
Es gibt die Regel, dass ein Kristall von den am langsamsten wachsenden Flächen begrenzt wird.


Pfusch am Bau: Verzerrte Kristalle
Da Kristalle zugleich an vielen Stellen in der Lösung entstehen und sicherlich auch voneinander nichts wissen, behindern sie sich beim Wachstum.

Bild 7: Verschiedene Formen von Kandiszucker-Kristallen
(Foto: Daggi)


Nur im seltensten Fall entstehen deshalb wohlgeformte Kristalle, die in ihrem Aufbau den Grundkörper ihrer Kristallklasse oder ihres Kristallsystems repräsentieren. Normalerweise entstehen verzerrte Körper. (Die Winkel zwischen korrespondierenden Flächen sind aber immer gleich!) Das liegt an den unterschiedlichen Konzentrationen in den einzelnen Bereichen einer Lösung. Außerdem ist die Form von Strömungen aufgrund von Wärmeausgleichs ("Konvektion") oder durch Konzentrationsschwankungen aufgrund von Wachstum abhängig. So wird ein aufgehängter wachsender Kristall von unten her angeströmt und bildet deshalb nach unten eine Spitze aus.

Bild 8: Alaun mit Spitze gegen die Strömungsrichtung
(Foto: Blume)


Das gleiche beobachtet man, wenn Kristalle mit gesättigter Lösung oder (wie bei der Resublimation) mit dampfhaltiger Luft angeströmt werden. Denn Kristalle wachsen der Strömungsrichtung entgegen. Das kann man sehr schön bei der Bildung von langen, prächtigen Raureifnadeln in den Alpen beobachten, die überraschenderweise entgegen der Windrichtung wachsen. "Resublimation" ist Kristallwachstum aus dem Gas- bzw. Dampfzustand heraus (-> Versuch).

Bild 9: Raureif gibt es auch am Boden
(Foto: Blume)


Kristalle, die während des Wachstums auf dem Boden der Kristallisierschale liegen, werden schnell verzerrt. Denn sie werden nicht gleichmäßig von allen Seiten mit Baumaterial "bedient". Das gilt besonders für voluminöse Oktaeder wie beim Alaun. Aber auch die Schwefel-Rhomben fallen ausgesprochen flächig aus (-> Versuch).

Diese flächigen Kristalle bilden kaum noch Oktaeder, auch wenn man sie am Faden in die Lösung hängt. Lässt man aber die Keime von Alaunkristallen sich von vornherein an einem Faden in einer gesättigten Lösung entwickeln, erreichen sie ihre Idealstruktur eher.

Es bilden sich auch Durchdringungskörper, manchmal sogar Zwillinge. Diese bilden sich auch leicht unter den Bedingungen eines Schullabors.

Bild 10: Kristallzwillinge von Alaun, Seignettesalz und Natriumthiosulfat
(Fotos: Daggi)


Im schlechtesten Fall entsteht eine polykristalline Masse. Ist diese flächig angeordnet, erhalten wir "Blumen" und "Federn". Beispiele sind die im Winter Fenster schmückenden Eisblumen oder federartige Metallkristalle, die die Überzüge bei der Feuerverzinkung sowie Feuerverzinnung von Metallen bilden. Überhaupt sind alle Metalle polykristallin aufgebaut. Beim Zinn hört man sie sogar, wenn man sie biegt ("Zinngeschrei"; -> Versuch). Aber auch der Schwefel gehört hierzu.

Bild 11: Verzinktes Blech
(Foto: Daggi)


Es bedarf deshalb eines großen technischen Aufwands, um Einkristalle zu züchten. Diese sind besonders stabil (wie beim Wolfram), elektronisch einheitlich (wie beim Silicium) oder schwingen ideal (wie beim Quarz).

Temperatur, Druck, Bindungsart der Teilchen untereinander und vorhandener Platz beeinflussen das Kristallwachstum. Da in der Natur unterschiedliche Wachstumsbedingungen herrschen, findest du hier vollkommen regelmäßige Kristalle sehr selten.

Bild 12: Ein selbstgezüchteter Alaunkristall
(Foto: Daggi)


Das Bild zeigt dir, wie auch selbstgezüchtete Kristalle bei idealen Wachstumsbedingungen wachsen können. Bei diesem Alaunkristall erkennst du sehr deutlich die für ihn charakteristische Kristallform des Oktaeders.
Wenn eine Stelle des Kristalls nicht "richtig" ausgebildet oder gar beschädigt ist, wächst in vielen Fällen zunächst diese Stelle nach (-> Versuch).


Kleine Fehlstellen sind vorprogrammiert
Kristalle wachsen sehr schnell: Um die 200 Schichten pro Sekunde entstehen. Dazu muss man wissen, dass ein Kristall mit der Kantenlänge von 1 mm aus etwa 1020 Atomen aufgebaut ist. Das sind 100 Trillionen Bausteine, die sich in einem Salzkorn befinden!
Stellt man sich vor, was für ein Gedränge an dieser "Baustelle" herrscht, so wird klar, dass es kaum perfekte Kristalle gibt, sondern dass mit Fehlstellen behaftete Kristalle die Regel sind.


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Letzte Überarbeitung: 24. Oktober 2012, Dagmar Wiechoczek