Urin - Das Wundermittel der Autoindustrie und Pharmazie?

Experimente:
Versuch: Harnstoffsynthese nach Wöhler


Spätestens seit Carmen Thomas in ihrem legendären Ü-Wagen "Violetta" die Eigenurin-Therapie propagierte und für unfreiwillige Lacherfolge in ganz Deutschland sorgte, steht es für viele fest: Urin ist ein Wundermittel. Und nachdem nun auch die Autoindustrie damit die Abgase von Dieselmotoren reinigen will, soll berichtet werden, was wirklich dahinter steckt: Die erwarteten Rollen spielt nur ein wichtiger Hauptbestandteil des Harns, der Harnstoff.

Harnstoff
(Carbamid, Kohlensäurediamid)

Harnstoff ist ein Endprodukt unseres Eiweißstoffwechsels. Er wird in der Leber gebildet und gelangt über das Blut und die Nieren in das "Pipi". In reiner Form ist er ein farbloser Feststoff mit einer Schmelztemperatur von 132,7 °C.

Durchschnittlich sollte das "Pipi" eines gesunden Erwachsenen pro Liter ca. 20 g Harnstoff, 0,5 g Harnsäure, 0,8 g Ammonium-Ionen, 0,5 g Ammoniak, 2 g Aminosäuren, einige Vitamine sowie andere anorganische und organische Stoffe enthalten.

Allerdings findet man Harnstoff auch in vielen Pflanzen und besonders auch in Pilzen.


Harnstoff - ein Meilenstein der Chemie
Bereits 1729 wurde Harnstoff als Bestandteil des Harns von Boerhave entdeckt. Mit der ersten Harnstoffsynthese gelang 1828 Wöhler ein Meilenstein der Chemie. Wöhler stellte aus dem anorganischen, isomeren Ammoniumcyanat den organischen Harnstoff her:

Damit wurde das damals geltende Dogma, dass organische Substanzen grundsätzlich nur von Lebewesen durch die so genannte "vis vitalis" (Lebenskraft) hergestellt werden könnten, widerlegt.

Mit diesem Versuch riss er auch bekanntlich die Mauern zwischen der organischen Chemie (damals ausschließlich Biochemie) und der anorganischen Chemie ein.
Zu dieser Entdeckung gibt es einen erfrischend-deftigen Schriftwechsel zwischen Wöhler und seinem Mentor Berzelius, den zu lesen sich unbedingt lohnt.

Diese Synthese kann man auch in einem kurzen Versuch nachvollziehen.


Harnstoff als Futtermittelzusatz
Der Mensch scheidet wie jedes andere Säugetier etwa 80-90 % des mit der Nahrung aufgenommenen Stickstoffs in Form von Harnstoff aus. Dieser entsteht in der Leber durch eine komplizierte Synthese aus Ammoniak und Kohlendioxid. Die Reaktion ist eine Katalyse, an der viele Stoffe und Enzyme beteiligt sind. Der Kreislauf ist als Harnstoffzyklus bekannt.

Anders verhält es sich da bei Wiederkäuern, die mit Hilfe eines bestimmten Enzyms auch noch Harnstoff verdauen können. Daher ist Harnstoff auch als Futtermittelzusatz für Rinder geeignet.


Harnstoff als Reinigungsmittel von Abgasen
Am 10. Juni 2005 sorgte ein Bericht der britischen Tageszeitung The Guardian für Furore. Er handelte von einem Busunternehmer, der seine Busse mit Schafsurin betrieb. Allerdings nutzte er den Urin nicht als Treibstoff, sondern als Reinigungsmittel für seine Dieselabgase. Genau genommen handelt es sich um die Wirkung von Harnstoff. Mittlerweile verspricht diese Technologie, Standard zu werden.

Bisher standen die Automobilbauer nämlich immer vor dem Problem, dass Dieselmotoren einen besonders hohen Ausstoß von Stickoxiden (NOx) aufweisen. Bei spritsparenden Modellen ist dieser Wert aufgrund der Druck- und Temperatursteigerung sogar noch erhöht.
Erschwerend kommt hinzu, dass Dieselmotoren vor allem den USA-Markt erobern sollen. Das gelang bislang nicht - wegen der strengen Abgasnormen in den USA.

Die Technik der NOx-Vernichtung mit Harnstoff ist übrigens keine neue Erfindung. Sie bewährt sich bereits seit 15 Jahren in Kraftwerken (DENOX-Verfahren) und auf Schiffen. Allerdings nimmt man dabei im Allgemeinen Ammoniak statt Harnstoff. Das Verfahren wird auch mit SCR gekennzeichnet (Selective catalytic reaction).

Bei der Abgasreinigung wird eine fein dosierte Harnstofflösung in das heiße Abgas gespritzt. Dabei entsteht Ammoniak, das an einem Katalysator die Stickoxide zu harmlosen Stickstoff reduziert.

3 NO2 + 4 NH3 ———> 7/2 N2 + 6 H2O


Harnstoff in der Pharmazie und in der Kosmetik
In geringer Konzentration (ca. 2%ig) dient Harnstofflösung als Wundheilmittel. Über den Wirkungsmechanismus hierfür ist nichts bekannt. Das ist wohl der Grund für die mögliche Wirkung der Eigenurin-Therapie.

Eine besondere, medizinische Einsatzmöglichkeit ist die Verwendung als Antidot (Gegenmittel) bei Vergiftungen mit Formaldehyd.

Interessanterweise beruht die Wirkung eines Krauts namens Beinwell, dessen Wurzeln in Europa als Wundheilmittel und entzündungshemmendes Mittel eingesetzt werden, ebenfalls auf Harnstoff. Denn der eigentliche Wirkstoff des Beinwells, Allantoin, spaltet Harnstoff ab.

Allantoin


Weitere Verwendungen für Harnstoff
Harnstoff ist auch das Ausgangsprodukt für Melamin. Das ist das zyklische Trimere von Harnstoff, welches z. B. mit Formaldehyd zu Kunstharzen verarbeitet wird. Aus Melaminharzen fertigt man u. a. hitzebeständige Zahnputzbecher sowie Bauteile für elektrische Anlagen. Beim starken Erhitzen erkennt man diesen Kunststoff sofort: Er riecht dann fischig.

Aber auch mit Harnstoff selbst stellt man in Kombination mit Formaldehyd Harze her (so genannte UF-Harze), die zum Beispiel zur Beschichtung von Spanplatten eingesetzt werden.

Des Weiteren wird ein Großteil des weltweit erzeugten Harnstoffs, alleine oder in Kombinationen mit anderen Stoffen, als Dünger eingesetzt.

Wichtig ist auch die Anwendung zur starken Herabsetzung der Explosionsgefahr von Ammoniumnitrat durch Zusatz von 1 % Harnstoff.

Selbst in der Lebensmittelindustrie verwendet man Harnstoff, beispielsweise als Geschmacksverbesserer für zuckerfreie Kaugummis. Außerdem verbessert Harnstoff die Kaueigenschaften.

Sehr viel Harnstoff wird auch bei der Veredelung von Dieselöl benötigt. Harnstoff bildet nämlich spiralige Kristalle und vermag dabei unter Bildung von Einschlussverbindungen lineare Kohlenwasserstoffmoleküle von verzweigten abzutrennen. Damit wird das Auskristallisieren von Dieselöl in kalten Jahreszeiten unterbunden. Statt Harnstoff setzt man hierzu auch sein Schwefelhomologes ein, Thioharnstoff.


Weitere Texte zum Thema „Ammoniak, Amine und Säure-Amide“


Diese Seite ist Teil eines großen Webseitenangebots mit weiteren Texten und Experimentiervorschriften auf Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie.
Letzte Überarbeitung: 25. Januar 2007, Dagmar Wiechoczek