Lässt sich die Stärke anorganischer Säuren voraussagen? Uwe Lüttgens
Neulich sind wir im Unterricht über ein interessantes Problem gestolpert. Eine Schülerin fragte, woran man eigentlich erkennen kann, welche der beiden Säuren nun die stärkere ist – Salzsäure oder Schwefelsäure? Bild 1: Salzsäure und Schwefelsäure
Dahinter steckt die Frage, ob sich die Stärke von anorganischen Säuren eigentlich voraussagen lässt. Kann man die beiden Mineralsäuren – wir sprechen von Mineralsäuren, da sie sich aus Mineralien gewinnen lassen, deren Anionen in unserem Fall das Chlorid-Ion bzw. das Sulfat-Ion sind - überhaupt miteinander vergleichen? Oder ist es so wie mit den Äpfeln und Birnen, die sich ja bekanntermaßen auch nicht miteinander vergleichen lassen. Bild 2: Apfel und Birne
Ein wichtiges Basiskonzept: Das Donator-Akzeptor-Konzept
Damit du dich nicht verwirren lässt: In einigen Lehrbüchern findest du als Angabe den pKa-Wert, in anderen steht dort der pKs-Wert. Der einzige Unterschied besteht in der Sprache: Das tiefgestellte a steht für die lateinische acidum: Säure. Oder auch für die englische acid: Säure. Und der Index s natürlich für die Säure. Hier wird ein wichtiges Basiskonzept der Chemie angewendet, das wichtige Donator-Akzeptor-Konzept. Dieses findet nicht nur bei Säure-Base-Reaktionen, bei denen Wasserstoff-Ionen H+, also Protonen zwischen dem Donator (lat. donare spenden) und dem Akzeptor (lat. accipere annehmen) ausgetauscht werden, Anwendung, sondern auch bei Red-Ox-Reaktionen, bei denen zwischen dem Oxidationsmittel und dem Reduktionsmittel Elektronen ausgetauscht werden. Für Spezialisten: Die Protolysekonstante Ka und der Protolyseexponent pKa
Was können wir aus der Formel ablesen? Je höher die Konzentration an Hydronium-Ionen H3O+ ist – entsprechend steigt auch die Konzentration des Säurerest-Ions A- - desto größer ist der Wert für Ka. Wie wir aus der Reaktionsgleichung ablesen können, muss die Konzentration an Säurerest-Ionen genauso hoch sein, wie die der Hydronium-Ionen in der sauren Lösung: Hier taucht die Konzentration von H2O nicht mehr auf; sie wird als konstant angenommen, und zwar deshalb, weil sich durch die Reaktion der Säure die Konzentration von Wasser nicht merklich ändert. Der Wert für die Stoffmengenkonzentration in einem Liter Wasser ist übrigens c(H2O) = 55,6 mol/l, wie sich leicht berechnen lässt: oder in Kurzform: Setzt man nun die entsprechenden Werte für Wasser ein, ergibt sich für die Stoffmenge n an Wasser in einem Liter Wasser mit der Dichte 1: Die Werte für Ka sind ziemlich unhandlich. Entweder sind sie äußerst klein bei schwachen Säuren, die kaum dissoziiert sind. Oder aber sie sind extrem groß, wenn eine Säure mehr oder weniger vollständig dissoziiert vorliegt. Wie immer, wenn der Wert einer Größe über mehrere Zehnerpotenzen schwanken kann, nutzen Naturwissenschaftler gerne die Logarithmusfunktion. Dadurch, dass der Exponent einer Potenz genutzt wird, wird der Wert deutlich handlicher, nämlich in Form des negativen dekadischen Logarithmus, der als Protolyseexponent pKa oder auch einfach nur als pKa-Wert bezeichnet wird: Die geschweifte Klammer bringt zum Ausdruck, dass nur der Wert von Ka logarithmiert wird, dessen Einheit bleibt dabei unberücksichtigt, was mathematisch eigentlich nicht ganz sauber ist. Ein Logarithmus kann nämlich nur von dimensionslosen Zahlenwerten berechnet werden.
Und wie kommt man auf die Zahl -1,74? Dies ist der pKa-Wert der Säure H3O Wer mehr erfahren will über die Dissoziation und Dissoziationsdiagramme, klickt hier. Lässt die Struktur eines Säuremoleküls eine Voraussage der Säurestärke zu?
Die Frage ist also: Wie leicht lässt sich die X-H-Bindung spalten?
Je stärker einer der beiden Bindungspartner die bindenden Elektronenpaare in einer Atombindung anzieht, desto polarer ist die Bindung. Der Wert für die Elektronegativität EN des „elektronenziehenden“ Atoms muss entsprechend größer sein als der des zweiten an der Bindung beteiligten Atoms. Je größer die Differenz der Elektronegativitäten der Atome ist, desto polarer ist eine Bindung. In der Regel spricht man ab einer Elektronegativitätsdifferenz von ΔEN = 1,7 von einer Ionenbindung. Nun kommen der Atomradius und die positive Ladung des Atomkerns ins Spiel: Je kleiner der Radius eines Atoms ist, desto stärker ist die Anziehung eines Elektronpaars in einer Bindung. Anders gesagt: „Die Anziehung des äußeren Elektronenpaars nimmt ab, je weiter es vom Atomkern entfernt ist.“ Ebenso wird klar, dass eine hohe positive Kernladung zu einer Zunahme der Elektronegativität eines Atoms führen muss, wenn der Atomradius sich nicht zu stark ändert: „Je höher die Kernladung des Atoms (bei vergleichbarem Atomradius), desto größer ist die Anziehung des Elektronenpaars, also auch die Elektronegativität“. 1. Halogenwasserstoffsäuren
Dazu schauen wir uns die jeweiligen EN-Werte mal genauer an:
Tabelle 2: Atomradius und Elektronegativitätswert Nun schauen wir uns die pKa-Werte an:
Tabelle 3: pKa-Werte der Halogenwasserstoffsäuren Der Tabelle können wir entnehmen: Die Iodwasserstoffsäure ist die stärkste Halogenwasserstoffsäure. Deutlich wird also, dass die X-H-Bindungslänge und damit der Radius des jeweiligen Halogenatoms bestimmt, wie stark eine Halogenwasserstoffsäure ist. Unsere Überlegungen könnten also lauten:
Dies deckt sich mit den angegebenen pKa-Werten der Säuren. Jetzt lässt sich eine einfache Regel in Form einer Je-Desto-Beziehung formulieren: Merksatz für Halogenwasserstoffsäuren:
Innerhalb einer Hauptgruppe lässt sich die einfache Regel an der Diskussion der Säurestärken von H2O, H2S, H2Se und H2Te überprüfen. Innerhalb einer Periode spielt die Polarität der Bindung die entscheidende Rolle. Hier müsste eine andere Je-Desto-Beziehung formuliert werden. Merksatz innerhalb einer Periode:
Dazu bietet sich der eindrucksvolle Vergleich von HF mit H2O und der Base NH3, an. Angesprochen werden sollte noch die Rolle des Protonenakzeptors, der zu berücksichtigen ist, da die X-H-Bindung gebrochen werden muss, damit sich eine H-OH2-Bindung bildet. Hier taucht wieder das Donator-Akzeptor-Konzept auf! 2. Sauerstoffsäuren
Sauerstoffsäuren mit gleichem Zentralatom
Tabelle 4: pKa-Werte der Schwefel-Sauerstoffsäuren Wodurch unterscheiden sich die beiden Schwefel-Sauerstoffsäuren? Durch ihre Anzahl an Sauerstoffatomen, die am zentralen Schwefelatom gebunden sind. Jedes einzelne Sauerstoffatom zieht nun aufgrund seiner im Vergleich zu Schwefel (EN(S) = 2,5) höheren Elektronegativität von EN(O) = 3,5 in der polaren Bindung die Bindungselektronen deutlich an. Dies wirkt sich nun auch auf die beiden benachbarten O-H-Bindungen aus. Diese werden durch diesen elektronenziehenden induktiven Effekt – man spricht von einem –I-Effekt - geschwächt. Bild 3: Strukturen von Schwefliger Säure und von Schwefelsäure
Es macht nun einen deutlichen Unterschied, ob dieser Effekt von nur einer S-O-Doppelbindung oder von zwei S-O-Bindungen ausgeübt wird. Geht der –I-Effekt von zwei Sauerstoffatomen aus, dann werden die O-H-Bindungen deutlich schwächer. Anders gesagt: Die jeweiligen aciden Wasserstoffatome lassen sich leichter durch Wassermoleküle abspalten. Wie lässt sich daraus eine einfache Regel formulieren? Betrachten wir die Oxidationszahlen, kurz OZ. Die Oxidationszahl des zentralen Schwefelatoms beträgt in der Schwefligen Säure H2SO3 + 4. Für die Schwefelsäure H2SO4 ergibt sich +6. Merksatz für Sauerstoffsäuren mit gleichem Zentralatom:
Je größer die Oxidationszahl des Zentralatoms ist, desto stärker ist die Säure. Sauerstoffsäuren mit unterschiedlichen Zentralatomen
Tabelle 5: pKa-Werte von Sauerstoffsäuren Welcher strukturelle Unterschied ist für die deutlich verschiedenen pKa-Werte relevant? Vergleichen wir dazu die Elektronegativität: Sie ist für das zentrale Phosphoratom der Phosphorsäure mit EN(P) = 2,1 kleiner als die des zentralen Schwefelatoms der Schwefelsäure mit EN(S) = 2,5. Bild 4: Struktur der Phosphorsäure
Merksatz für Sauerstoffsäuren mit unterschiedlichen Zentralatomen:
Fazit
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