Überspannung

Viele meinen, dass Elektrolysen relativ einfache Reaktionen sind. Da werden zwischen den katalytisch wirkenden Elektrodenoberflächen Elektronen mit den Ionen ausgetauscht. In der Praxis sind die Redoxvorgänge an den Elektroden bzw. die Entladungsvorgänge auf vielerlei Art und Weise gehemmt. Es kommt zu Polarisationen, die die Elektronenübertragung erschweren.

Statt der aus tabellierten Standardpotentialen (Spannungsreihe) und mit Hilfe der Nernstschen Gleichung berechneten Zersetzungsspannung (genau genommen betrifft das die aus der freien Energie herzuleitende reversible Elektrodenspannung) muss man eine oftmals wesentlich höhere Spannung aufbringen. Diese ist letztlich eine Aktivierungsenergie - wie sie bei allen chemischen Reaktionen zu beobachten ist.

Die Differenz zwischen der praktischen und der reversiblen Elektrodenspannung für eine elektrochemische Reaktion nennt man Überspannung.

Letztlich wird die Hemmung durch die an der Elektrolyse beteiligten Stoffe verursacht. Das betrifft einmal das Elektrodenmaterial, aber auch die zu entladenden Ionen und die abgeschiedenen Stoffe. Sie können alle auf den Übergang von Elektronen zwischen Elektroden und zu den ankommenden Ionen beeinflussen.

Deshalb ist auch die Größe der Überspannung abhängig vom Elektrodenmaterial, von der Größe seiner Oberfläche, der Stromdichte und der Art der sich abscheidenden Stoffe. Hinzu kommt noch die Temperatur und bei Gasbildungsreaktionen natürlich auch noch der Druck.


Überspannungen spielen nicht nur bei Elektrolysen eine Rolle
Sie treten in der Experimentierpraxis überall auf, wo das Wechselspiel zwischen Elektrode und Elektrolyten eine Rolle spielt. Das betrifft genauso den Betrieb Galvanischer Elemente, deren Energieausbeute sie verringern. Aber auch die Messtechnik ist davon nicht unbeeinflusst, da die Messgrößen (Potential/Spannung, Stromstärke, Widerstand) von der Interaktion zwischen Elektroden und Elektrolyten stark beeinflusst werden.


Immer wieder kommt folgende Frage:
“Ich bitte Sie um Hilfe bei der Frage (aus dem Leistungskurs Chemie), wie sich theoretisch erklären lässt, dass Chlor an Graphit- oder Platinelektroden eine geringere Überspannung hat als Sauerstoff oder Stickstoff. Gibt es ein Erklärungsmodell, das Höhe der Überspannung, Art des Elektrodenmaterials und Art des abgeschiedenen Stoffes in Zusammenhang bringt?“

Quantifizierende Erklärungsmodelle gibt es in der Literatur; sie sind aber sehr kompliziert. Viele Modelle sind eher quantenchemischer Natur. Hinzu kommen Berechnungen vor allem unter Einschluss der Freien Energie DG und der elektromotorischen Kraft (EMK) DE , also unter Berücksichtigung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik.


Es gibt verschiedene Formen der Überspannung
Hier sind einige wichtige Beispiele:

Die wichtigste Form ist die Diffusions- oder Konzentrations-Überspannung, die auf dem Konzentrationsunterschied der Ionen direkt an der Elektrodenoberfläche (Grenzschicht) und in der weiteren Elektrodenumgebung beruht.

Sollte nicht auch ein schwaches elektrisches Feld zur Entladung der Ionen ausreichen? Antwort: Nein.

Ist die angelegte Spannung zu gering, diffundieren die Ionen nur heran und stoßen mehr oder weniger zufällig auf die Elektrodenoberfläche. Es kommt dadurch zu einer Polarisation der Elektrodenoberflächen, die der Entladung entgegensteht.

Denn man muss sich verdeutlichen, dass sich die Ionen regelrecht durch ein Gitter von Wassermolekülen drängeln müssen. Außerdem strömt der Strom positiver Ionen dem der negativen Ionen entgegen, wobei sich die Ionen stark beeinflussen – und sich wegen entgegengesetzter Ladungen quasi ausbremsen. Dazu sind sie nicht nur Punktladungen, sondern von einer dichten Hydrathülle umgeben und deshalb besonders voluminös.

Zuletzt müssen die Ionen vor der Entladung auch noch „gestrippt“ werden, denn schließlich hemmt ihre Hydrathülle den Elektronenaustausch mit der Elektrodenoberfläche.

Man kann diese Diffusions-Überspannung dadurch verringern, dass der fehlende Ionen-Nachschub durch Spannungserhöhung ausgeglichen wird. Im elektrischen Feld bewegen sich die Ionen deshalb schneller und überwinden den eben geschilderten „elektrophoretischen Effekt“.

Wenn die „nackten“ Ionen an die Elektrodenoberfläche gelangen, heißt das aber noch lange nicht, dass sie gleich entladen werden können. Dazu ist ebenfalls eine gewisse Aktivierung notwendig. Man muss sich das einmal vorstellen: Da hocken die Ionen förmlich an „ihrer“ Elektrode und warten auf Entladung. Es kommt sogar zur Ausbildung von Ionen-Doppelschichten, weil dann auch die entgegengesetzt geladenen Ionen andocken können. Das alles macht die Elektrodenoberfläche für weitere Ionen ziemlich undurchlässig.

Aber hier gibt es neben der Erhöhung der Spannung noch einen Trick: Das ist der Einbau einer Salzbrücke, die die beiden Elektrodenräume verbindet. Denn es stellen sich an beiden Seiten der Salzbrücke zwischen den Elektrodenräumen gleiche Überspannungsverhältnisse ein - aber mit entgegengesetzten Vorzeichen. Damit heben sich die Effekte der Diffusionsüberspannung auf. Am besten geht das mit einer Agar-Inertsalz-Brücke.

Oder man setzt den Auslauf des gegenüberliegenden Elektrodenraums ganz eng (Abstand < 1 mm) auf die andere Elektrode und vermindert auf diese Weise den Weg, den die Ionen nehmen müssen. Diese Anordnung ist bekannt als Haber-Luggin-Kapillare. Sie spielt eine wichtige Rolle bei den Untersuchungen von Abläufen in den Neuronen, bei denen es ganz besonders auf Feinmessungen ankommt. Durch diese Anordnung wird auch der folgende Überspannungstyp in unserem Sinne positiv beeinflusst.

Die Widerstands-Überspannung beruht auf dem Ohmschen Widerstand in der Elektrolyt-Lösung, im Diaphragma, Elektrolytbrücke und im gesamten äußeren technischen System der Elektrolyse-Anordnung. Besonders die in der Schule gern genommene Salzbrücke, hergestellt aus einem dünnen und schmalen Streifen Filterpapier, soll hier genannt werden.

Die Durchtritts-Überspannung beruht auf Hemmung der Elektroden-Redoxreaktion. Diese Form nennt man auch Aktivierungs-Überspannung, denn hier wird der Aspekt der Aktivierungsenergie besonders deutlich. Meistens geht es um die Abscheidung von Gasen. Diese überziehen die Elektrode. Damit die zu entladenden Ionen durch die Gasblasenhülle „tunneln“ können, müssen sie stärker vom elektrischen Feld durch die Lösung um die Gasblasen gezogen werden.

Verschiedenes Elektrodenmaterial reagiert zum Beispiel gegenüber Wasserstoff-Ionen unterschiedlich. Platin löst den gebildeten Wasserstoff legierungsartig und schafft auf diese Weise immer wieder neue Oberflächen. Seine Überspannung ist deshalb klein. Bei Hg ist es genau umgekehrt. Es bildet überhaupt keine Legierungen mit Wasserstoff. Seine Überspannung ist deshalb am größten. Da Quecksilber andererseits aber mit Natrium Legierungen (Amalgame) bildet, ist seine Überspannung gegenüber dem Natrium am kleinsten. In diesem Fall ist es beim Pt umgekehrt. Das ist die Grundlage des Amalgamverfahrens zur Elektrolyse von NaCl-Lösungen.

Wird das Abscheidungsprodukt, das die Elektrode überzieht, durch Folgereaktion verbraucht, so sinkt die Überspannung aufgrund der freigesetzten Energie ab. Chlor z. B. reagiert mit dem Elektrodenmaterial, etwa zu Chloroplatinat-Komplexen. Aber man kann von vornherein auch so genannte Depolarisatoren hinzugeben - wie etwa Braunstein bei den Trockenelementen, der mit Wasserstoff reagiert und die Elektroden vom Gas freihält.

Die Abscheidung von Metallen wird noch durch die Kristallisations-Überspannung beeinflusst. Das heißt, dass aus dem zuvor ungeordneten Metallatomhaufen ein Metallgitter werden muss. Erst dann kann dieses abgeschiedene Metall Elektronen leiten und auf die Ionen übertragen. Auch zur Einleitung der eigentlich exothermen Kristallisation ist Aktivierung notwendig. Diese Überspannung kann man umgehen, wenn man Kristallbildung vermeidet. Das ist zum Beispiel der Fall bei der schon erwähnten Amalgambildung zwischen Natrium und Quecksilber. Hierbei wird das Natrium quasi im Elektrodenmaterial gelöst.


Zur Rolle der Temperatur
Bei diesen Erörterungen wird deutlich, dass bei Elektrolysen auch die Temperatur eine wichtige Rolle spielt. Die Elektrolyse von Wasser zur Gewinnung von Wasserstoff oder Sauerstoff läuft in 80-85 °C heißem Wasser ab. Die Temperaturerhöhung wirkt sich auf die Bewegung der Ionen und Lösemittel-Moleküle aus. Hinzu kommt auch noch das unterschiedliche Lösungsverhalten von Gasen und Ionen. Während sich Ionenkristalle eher in der Wärme lösen und die Ionen sich in der Lösung schneller bewegen, gilt bei Gasen das Umgekehrte: Sie lösen sich in der Kälte besser. Das Erwärmen einer Elektrolyseanordnung führt zwar zu einer verbesserten Entladung der Ionen, die Bildung von Gasblasen hemmen das Ganze aber wieder. Deshalb kann man versuchen, die Bildung von Gasblasen durch Druckvariation zu vermindern, indem man die Blasen abzieht oder Blasenbildung unterdrückt.


Wer es genauer wissen will
Es gibt eine Reihe sehr guter Lehrbücher zur Physikalischen Chemie bzw. Elektrochemie, in denen das Thema ausführlich abgehandelt wird.


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Letzte Überarbeitung: 07. Mai 2009, Dagmar Wiechoczek