Prof. Blumes Tipp des Monats September 2002 (Tipp-Nr. 63)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


(Foto: Daggi)


Rechtzeitig zum Urlaub im Süden:
Warum man zu Fisch und anderen Meeresfrüchten ein Zitronenscheibchen serviert

Im Urlaub gibt es immer Zitronenscheibchen (manchmal auch nur ein halbes) zu Fisch oder zu den anderen Meeresfrüchten (wie Langusten, Seegurken, Austern, leckeren Schnecken, Octopussis oder Seeigel). Und auch zum Reinigen der Finger nach dem Krabbenpulen reicht man dem Gast ein Schälchen mit Wasser - angereichert mit Zitronensaft.

Jeder Angler weiß: Frisch gefangene Meeresfrüchte schmecken völlig neutral - manche sagen nussig. Das sollte eigentlich auch für Tiefkühlfisch gelten. Stimmt aber meistens nicht: Was man so aus der Tiefkühltruhe fischt, riecht schon beim Auftauen reichlich fischig.

Das liegt an den langen Transportwegen. Wissen Sie, dass Neuseeland Fische nach Deutschland liefert? Wussten Sie, dass die in der Nordsee gefangenen Krabben zum weitaus größten Teil von fleißigen Frauen in Marokko gepult werden, bevor sie auf Ihren Tisch kommen, und dazu 8 Tage (wenn auch in Kühl-Lkw) durch Europa und Nordafrika gekarrt werden? Französischer Fisch zum Beispiel - serviert im Fisch-Restaurant am Fischerei-Hafen von Le Havre - hat dem Vernehmen nach beim Weg vom Schiff auf den Teller eine lange Reise hinter sich: Er wurde gefangen zum Beispiel im Atlantik vor Le Havre, dann zum landesweiten Zentralmarkt in Paris (Les Halles) gefahren, dort versteigert und (wenn er Glück hatte, ohne Zwischenhändler) nach Le Havre zurückgekarrt und dort serviert. Glauben Sie das nicht? Das ist der Hintergrund für die meisten saftigen Prügeleien der wackeren Freunde von Asterix. Dort ist der in der deutschen Übersetzung "Verleihnix" genannte Fischer Ordralfabétix tätig und wegen dieser zentralen Transporterei hilflos den Konflikten um frischen Fisch ausgesetzt, obwohl er direkt am Meer hockt und den Fisch selbst fängt...

Vielleicht haben die einen oder anderen Les Halles im Original selbst gesehen. Wenn Sie nicht das Glück hatten, dieses Flair noch zu erleben, sollten Sie zumindest den Film "Das Mädchen Irma la Douce" von Billy Wilder aus dem Jahre 1963 ansehen. In diesem Film mit Shirley MacLaine und Jack Lemmon spielen viele Szenen in und um die Markthallen.

Das Wundermittel: Zitronensaft macht fischigen Fisch zu frischem Fisch. Als Kenner meiner Webseitensammlung zum Tipp des Monats vermuten Sie richtig: Dahinter steckt eine Menge Chemie, Alltags-Chemie.

Wie man übrigens Fisch zubereitet, besagt die vielen Hausfrauen und Hausmännern bekannte 3-S-Regel: Säubern, Säuern, Salzen. (Diese 3-S-Regel darf nicht mit der SSS-Regel der Organischen Chemie verwechselt werden!)

Zuvor aber: Was heißt fischiger Geruch?
Fischfleisch und das aller Meeresfrüchte ist leicht verderblich. Grund sind die Bakterien, die darauf siedeln. Sie produzieren aus Aminosäuren Amine - biogene Amine. Das erreichen die Mikroorganismen durch Decarboxylierung, also Abspaltung von CO2.

(Das geht auch - wenn auch etwas langsamer - in der Tiefkühltruhe recht gut. Schließlich sind es enzymatisch katalysierte Reaktionen mit bemerkenswert kleinem Q10-Wert; -> Webseite.)

Aus der einfachsten Aminosäure Glycin wird so das einfachste organische Amin, Methylamin.

Es ist nicht nur das einfachste, sondern auch das vom Geruch her penetranteste Amin. Und da Glycin die häufigste Aminosäure ist, ist auch Methylamin das häufigste Verwesungsamin - eben die zentrale Komponente von Fischgeruch. Es ist leider auch typisch für schlecht gereinigte Männerklos.
Man kann Methylamin leicht nachweisen. Es reagiert wie das analoge Ammoniak mit Wasser zu einer alkalischen Lösung.


Versuch: Nachweis von Aminen in der Luft
Hängen Sie ein angefeuchtetes pH-Papier in eine schlecht gelüftete Toilette. Nach wenigen Minuten färbt es sich grünlich bis blau.
Sie können den Versuch auch in einem Reitstall vornehmen.

So sollte sich fischiger Geruch auch in der Mikrowelle aufspüren lassen. Allerdings ist der Nachweis nicht besonders empfindlich. Aber man kann es ja mal versuchen.

Versuch: Amine entweichen beim Erhitzen von Fisch
Aufgetauter, unpanierter Fisch (zum Beispiel Scholle) wird in einem geschlossenen Gefäß in der Mikrowelle erhitzt. (Beim Braten in offener Pfanne werden alle leichtflüchtigen Amine rasch abgedampft.) Man lässt abkühlen und hält in den Luftraum des Gefäßes angefeuchtetes pH-Papier. Man bringt es auch mit dem Kondenswasser am Gefäßdeckel in Kontakt.

Das pH-Papier sollte olivfarben bis grünlich werden. Auch wenn der Nachweis nicht so deutlich wie gewünscht ausfällt, weil der Fisch, den man gekauft hat, qualitativ erfreulich hochwertig ist: Man spürt deutlich den Fischgeruch. Und nun servieren wir die Scholle mit ausreichend Zitronensaft: Plötzlich ist der fischige Geruch wie weggezaubert.

Dahinter steckt eine Brönstedsche Säure-Base-Reaktion
Amine sind Basen, die mit Säuren reagieren. Und Säuren wie die dreibasige Citronensäure gibt es in der Zitrone in ausreichend großen Mengen.

(Die meisten kennen das vom Ammoniak und Ammoniumchlorid.)

Freie Amine riechen, aber nicht ihre Salze. Denn erstere sind bei Raumtemperatur gasförmig oder zumindest leicht verdampfbar. So liegt der Siedepunkt von Methylamin bei -6,5 °C.
Die Kationen dagegen liegen als Salze vor; deshalb verdampfen sie nicht.

Auch hier liegt ein Vergleich mit Ammoniak und dessen Salz Ammoniumchlorid nahe. Schnuppern Sie zur Erinnerung noch einmal an einer Ammoniakflasche (dabei unbedingt "chemisch" riechen, also sich etwas mit der Hand zufächern!) und an Ammoniumchlorid. Grund für die scheinbare Verdampfbarkeit von Ammoniumchlorid ist nicht Sublimation, sondern Dissoziation in Ammoniak und Chlorwasserstoff (-> Webseite). Entsprechendes gilt auch für Methylammonium-Salze.

Man kann den Fischgeruch eigentlich mit jeder Säure neutralisieren
Mit Essig zum Beispiel geht es auch. Aber der hat einen zu starken Eigengeruch. Das hieße für viele, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Man könnte auch die starke Salzsäure nehmen. Die greift aber die Zähne an, wie jeder weiß, der sich schon einmal erbrochen hat - zum Beispiel nach dem Genuss von verdorbenem Fisch.
Und die Zitronensäure? Die ist verglichen mit der Essigsäure relativ stark. Da sie außerdem Komplexe mit zahnbildenden Calcium-Ionen bildet (-> Webseite), greift sie unsere Zähne an (-> Webseite). Das verzeiht man ihr aber im Allgemeinen, denn sie schmeckt halt gut, vor allem, wenn sie nicht aus der Retorte, sondern aus frischgepressten Zitronen stammt. Wer das mit der Säure nicht glaubt, sollte mal an sauer eingelegten Heringen oder Rollmöpsen schnuppern. Die riechen und schmecken überhaupt nicht "fischig"!

Und wenn ein Spaßvogel zum Fisch statt Zitronensaft eine mit Citronenöl versetzte Sodalösung servieren würde?
Dann riecht der Fisch ganz besonders fischig. Denn wegen der alkalischen Reaktion von Soda Na2CO3 (-> Stichwort Protolyse) wird jedes geruchsfreie Aminkation zum stinkenden, leicht verdampfbaren Aminmolekül.

Oft stellen meine Leser diese Frage: Falls der Fisch schon riecht, kann man ihn trotzdem essen, nachdem man Zitrone auf ihn getropft hat? Man kann den Fisch natürlich essen - wenn er nicht gar zu alt ist (so dass er zum Beispiel schon im Dunkeln leuchtet!).

Letzteres ist kein Witz - auch wenn manche dies vermuten. Die Bakterien, die auf vergammelten Fisch leben und dann leuchten, gibt es wirklich. Es handelt sich meist um Vibrio fischeri, V. harveyi und Fotobacterium leiognathi. Sie bedienen sich dazu eines sehr energieaufwendigen enzymatischen Systems (Luciferin/Luciferase-System), das dem der Leuchtkäferchen ähnelt.


Rüdiger Blume


Weitere Tipps des Monats


Literatur:
Goscinny et Uderzo: La grande traversée. Dargaud Ed., Neuilly-sur-Seine 1975.


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Letzte Überarbeitung: 08. Januar 2012, Dagmar Wiechoczek