Prof. Blumes Tipp des Monats Dezember 2006 (Tipp-Nr. 114)


Beim Experimentieren den Allgemeinen Warnhinweis unbedingt beachten.


Spielereien mit Formen:
Das anamorphotische Pentagondodekaeder von Yves Chamay

Schon meine alte Tübinger Biologie-Professorin, eine Spezialistin für Mikroskopie, stellte fest: Die Fähigkeit zum räumlichen Sehen und Denken ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche naturwissenschaftliche Tätigkeit. Das kann man beispielsweise an Kristallformen festmachen. Dabei lernt man noch etwas zur Philosophie, zur Kunst- und Wissenschaftsgeschichte und sogar auch zur Psychologie der optischen Täuschung.

Warum diese Vorrede? Im Renaissance-Schloss Brake bei Lemgo ist seit diesem Sommer ein Pentagondodekaeder zu sehen, den sich die Betrachter selbst erwandern müssen.

Pentagondodekaeder heißt deutschtümelnd wörtlich übersetzt etwa "Fünfeck-Zwölffach". (Wichtig: Es heißt deshalb das Pentagondodekaeder, das Tetraeder, das Oktaeder...) Dieser geometrische Körper spielt für die menschliche Kultur eine ganz besondere Rolle. Denn er gehört zu den fünf Platonischen Körpern. Platon hatte sogar gemeint, dass der Kosmos in Form eines Pentagondodekaeders geschaffen wurde. (Seine anderen kubischen Körper waren den vier alten Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde vorbehalten.) Die fünf Platonischen Körper durchdringen einander und bilden dabei das Universum [1].

Platonische Körper Bedeutung
Würfel Erde
Tetraeder Feuer
Oktaeder Luft
Eikosaeder Wasser
Petagondodekaeder Kosmos

Beziehungen Bedeutung
Feuer-Erde Trockenheit
Feuer-Luft Wärme
Wasser-Erde Kälte
Wasser-Luft Feuchtigkeit

Bild 1: Die platonischen Körper und ihre philosophische Bedeutung


Bemerkenswert ist, dass diese Strukturen nicht künstlich erdacht wurden, sondern durchaus in der Natur vorkommen - zum Beispiel vor allem als Kristalle des Pyrits.

Bild 2: Pyrit-Pentagondodekaeder (Foto: Daggi)

Beim Pentagondodekaeder handelt es sich keineswegs um eine Kristallform mit Fünfersymmetrie oder mit fünf Symmetrieachsen, sondern um eine kubische Form, die sich sogar in einem Würfel unterbringen lässt.

Bild 3: Die Symmetrien eines Pyrit-Pentagondodekaeders

(Man kann den Würfel natürlich auch in das Pentagondodekaeder einzeichnen.)

Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass der Pyritkristall gar kein ideales Pentagondodekaeder ist, denn die Kanten seiner Fünfecke sind nicht gleich lang: Eine Kante ist jeweils länger als die anderen vier, die jedoch unter sich gleich lang sind. Das erkennt man deutlich auf den Bildern 2 und 3. Trotzdem klappt das mit dem Würfel drum herum.

Dagegen zeigt das Steckmodell, das Dirk Eisner erdacht und gebaut hat, ein ideales Dodekaeder.

Bild 4: Modell eines Pentagondodekaeders (Foto: Blume)
(Dirk Eisner, Theoretische Chemie, Uni Bielefeld)

Die Farben der 30 Steckelemente sind übrigens nicht zufällig gewählt. Jeweils eine Farbe liegt am Ende von drei zusammengehörenden kubischen Symmetrie-Achsen. Um die Mittelkanten einer Farbflächengruppe lässt sich deshalb - wie in Bild 3 - ein Würfel legen. Da fünf Farben erkennbar sind, muss es beim idealen Pentagondodekaeder folglich auch fünf ineinander verschachtelte Würfel geben, die um diesen Körper konstruiert werden können. Das erinnert an M. C. Eschers Holzschnitt "Sterne" [1], [2]. Oder man denkt an seine Lithographie "Wasserfall", den ein dreifacher Würfel schmückt. (Auf dieses Bild kommen wir weiter unten noch einmal zurück.)

Künstler haben die herrliche, symmetrische Form des Pentagondodekaeders immer wieder dargestellt. Vor allem die Gemäldegalerien und Kupferstichkabinette der Renaissance-Zeit enthalten viele Abbildungen - selbst Albrecht Dürer hat sich in seinem Kupferstich "Melencolia" an ähnlichen Strukturen versucht. Bekannt ist auch M. C. Eschers Lithographie "Reptilien", in dem ein schnaufender Drache aus einer regelmäßig aufgeteilten Fläche von Alhambra-Kacheln in den Raum über ein Pentagondodekaeder krabbelt.

Vor allem aber waren Bildwerke, bei denen es um die Darstellung von Wissenschaftlern oder Denkern ging, mit diesem Symbol bestückt. Denn denen ging es ja letztlich um die Auflösung der Rätsel des Kosmos. Das gilt auch für Werke aus moderneren Zeiten, wie zum Beispiel für das Kosmonautendenkmal neben Moskaus Allunions-Park. Auf dem Sockel der großen aus Titan gefertigten Moskauer Raketenplastik ist eine Darstellung zu finden, wie Wissenschaftler ihrem Gott Lenin anstelle eines Grals ein Pentagondodekaeder - also das platonische Modell des Kosmos - weihen.

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Bild 5 (Foto: Blume)

Für Spezialisten sei angemerkt, dass es ausgerechnet in der Gegend von Lemgo, wo das im Folgenden beschriebene Kunstwerk vorgestellt wird, sogar Kristallzwillinge von Pentagondodekaedern gibt.


Im Methan-Eis ist das Methanmolekül von einem Pentagondodekaeder aus Wassermolekülen umgeben
In letzter Zeit hört man viel über Methan-Eis. Das ist bekannt als „brennendes Eis“. Es handelt sich um Einschlussverbindungen (Clathrate) von Methan in Wasser, die sich in großen Tiefen der Meeresschelfe bilden.

Dabei umhüllen 20 Wassermoleküle direkt ein Methanmolekül. 20 gleichmäßig verteilte Eckpunkte bilden bekanntlich ein Pentagondodekaeder. Die folgende Graphik zeigt diese Struktur. Zur Erklärung der Bindungsverhältnisse sind einige Wasserstoffbrückenbindungen eingezeichnet.

Struktur von Methan-Eis (verändert nach GFZ)
Die Sauerstoffatome sind schwarz, die Wasseratome blau gezeichnet. In der Mitte befindet sich das Methanmolekül


Wenn man sich in dieses Bild hineindenkt oder es selber konstruieren will, fallen einem rasch Ungereimtheiten auf:

1 Wasser bildet im festen Zustand doch eigentlich trigonale Strukturen - wie z. B. im Kristallgitter von Eis.

Offenbar ist es hier so, dass das kubische Tetraeder des Methanmoleküls den direkt angrenzenden Wassermolekülen eine ebenfalls kubische Nahordnungsstruktur aufzwingt. Das ist energetisch relativ einfach, weil der Bindungswinkel eines Wassermoleküls mit 104,5 ° dem Innenwinkel eines Pentagondodekaeders (108 °) ähnelt.

2 Ein Pentagondodekaeder verfügt über 20 Ecken, in denen die Sauerstoffatome der Wassermoleküle liegen. Die 20 Sauerstoffatome sind über 30 Kanten verbunden, auf denen die H-Atome liegen. 20 Wassermoleküle enthalten jedoch 40 Wasseratome. Hinzu kommt ja noch die gleiche Anzahl an Wasserstoffbrücken.

Es ist so, dass einige Wassermoleküle ihre zwei kovalenten Bindungen und zwei möglichen Wasserstoffbrücken aus dem Pentagondodekaeder hinaus richten und auf diese Weise um den kubischen Körper eine große Raumstruktur ausbilden.

Man kann also zusammenfassend sagen, dass das Methanmolekül von 20 Bindungstetraedern des Wassers umgeben ist.


Der klassische Fußball ist ein aufgeweitetes Pentagondodekaeder
Wenn man die 12 Fünfeckflächen durch 20 eingeschobene Sechsecke trennt, entsteht ein Körper, dessen Form der des Fußballs entspricht. Ein Molekül mit dieser Form gibt es auch in der Chemie: Es ist das berühmte Buckminsterfulleren mit der Formel C60. Hier berichten wir mehr darüber.

Struktur des Buckminsterfullerens



Die Anamorphosen
Ganz besonders aber waren die Renaissanceleute noch in etwas ganz anderes vernarrt, in die Technik der anamorphotischen Darstellung [3]. Die Bezeichnung stammt von den griechischen Worten ana-, rück- und morphe, Gestalt [4]. Der Betrachter muss das eigentliche, von ihm primär wahrgenommene Bild auf seinen eigentlichen Inhalt zurückformen. Anamorphosen sind deshalb Darstellungen, die erst unter ungewöhnlichen Perspektiven zu erkennen sind. Das war auch in der Kunst des Barocks oder des Rokokos, wenn es um versteckte Todesdarstellungen ging, nicht ungewöhnlich. Hier mischen sich die Techniken des Vexierbildes mit denen der Anamorphose.

Aber auch moderne Künstler beschäftigen sich noch mit Anamorphosen, wie es im Schlosspark von Brake bei Lemgo zu sehen ist. Wenn man auf das Schloss zugeht, erkennt man vor der Mauer ein scheinbar wirres Gebälk.

Bild 6 (Foto: Blume)

Geht man um diese Ansammlung herum, so formt sich daraus zunehmend ein kugeliges Gebilde.

Bild 7 (Foto: Blume)

Das Ganze mutiert schließlich zu einem prächtigen Pentagondodekaeder.

Bild 8 (Foto: Blume)

Der Künstler, der diese beeindruckende Anamorphose geschaffen hat, ist der Franzose Yves Charnay.


Mit Anamorphosen lassen sich sogar auch "unmögliche Figuren" konstruieren
"Unmögliche Figuren" sind Objekte, die es im normalen Raum eigentlich gar nicht geben darf [5].

Die folgenden Bilder 9 und 10 zeigen ein räumliches Modell, das aus einem bestimmten Winkel betrachtet das menschliche Auge zum Sehen einer unmöglichen Figur aus drei Balken zwingt. Diese Figur in Bild 9 besteht real aus drei Balken, die jeweils im rechten Winkel zueinander stehen und dennoch bei entsprechender Projektion ein - allerdings ungewöhnliches - Dreieck bilden.

 

Bilder 9 und 10: Räumliches Modell des Reutersvärd-Dreiecks und seine Projektion
(Fotos: Blume)

Zur Vorlage, die wir für dieses Foto benutzt haben, haben wir uns von Bruno Ernst [5] inspirieren lassen

Wenn Sie dieses Modell basteln wollen, so greifen Sie auf den Schnittbogen zurück.

Zum Betrachten: Hier ist nicht nur die relative Stellung des Betrachters wichtig, sondern auch die richtige Beleuchtung des Objekts. Achten Sie also darauf, dass das Modell (wie im Bild 10 gezeigt von links) richtig angestrahlt wird. Dann entsprechen die Schatten dem "realen" Eindruck eines Dreiecks. Andernfalls zerstören die Schatten den Eindruck der Anamorphose.

Diese Art der Figuren hat zum ersten Mal der schwedische Künstler Oscar Reutersvärd im Jahre 1934 gezeichnet. Die schwedische Post widmete dem mathematisch-künstlerischen Genie sogar einige Briefmarken.

Die "Reutersvärd-Figuren" sind später in vielen Variationen nachgeahmt worden. Vor allem hat M. C. Escher sie genutzt. Dessen in diesem Sinne bekanntestes Werk dürfte wohl seine Lithographie "Wasserfall" sein [2]. Hier wurde vor allem das Reutersvärd-Dreieck ins Zentrum des Werks gesetzt. Später hat der Mathematiker Roger Penrose diese Objekte genauer untersucht. Sie sind deswegen sogar nach ihm benannt worden (wahrscheinlich, weil die Amerikaner den schwedischen Namen Reutersvärd nicht aussprechen konnten...). Einer breiten Öffentlichkeit (wie auch mir...) wurden die Figuren erst so richtig um 1961 durch einen Artikel in "Scientific American" (Rubrik "Mathematical Games") bekannt gemacht [6].


Rüdiger Blume


Weitere Tipps des Monats


Literatur:
Ein Tipp: Wer diese Bücher nicht besitzt, kann versuchen, sie antiquarisch bei Amazon oder Guthschrift (usw.) zu bestellen.

[1] Bruno Ernst: Der Zauberspiegel des M. C. Escher. Verlag Heinz Moos, München 1978. (Hier werden die mathematischen Hintergründe zu Eschers Arbeit erläutert.)
[2] J. L. Locher und Koll.: Die Welten des M. C. Escher. Heinz Moos Verlag, München 1971. (Umfassendste Werkschau zu Escher.)
[3] Fred Leeman, Joost Elffers und Mike Schuyt: Anamorphosen. Verlag duMont Schauberg, Köln 1975.
[4] Prospekt zur Ausstellung im Schloss Brake 2006.
[5] Bruno Ernst: Abenteuer mit unmöglichen Figuren. Taco, Berlin 1987.
[6] Scientific American, April 1961.


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Letzte Überarbeitung: 08. Januar 2012, Dagmar Wiechoczek