Immer wieder werde ich gefragt, wovon es abhängt, ob sich a-D-Glucose oder b-D-Glucose bildet. Das ist deshalb sicherlich etwas für den Tipp des Monats! Da kann man wieder viel Chemie lernen – aber das ist diesmal zugegebenermaßen nichts für Anfänger…
Hier kommt… … die Vorgeschichte
Bild 1: Ringschluss bei der D-Glucose
Diese Isomere nennt man Anomere. Man bezeichnet sie mit den griechischen Buchstaben a und b: a-D-Glucose oder b-D-Glucose. Bild 2: Bildungsgleichgewicht der Anomeren der D-Glucose
Wenn man das bei den Anomeren untersuchen will, benötigt man die entsprechenden Kenndaten der reinen Substanzen, also der a-D-Glucose und b-D-Glucose. Die muss man erst einmal herstellen!
b-D-Glucose erhält man in reiner Form, indem man sie aus Pyridin auskristallisieren lässt. Wir merken schon: Es muss wohl größere Unterschiede zwischen a-D-Glucose
und b-D-Glucose geben, wenn ihre Kristallisation nur eine Frage des Lösemittels ist.
Denken wir weiter daran, dass sich aus der a-D-Glucose Stärke und aus der
b-D-Glucose Cellulose bildet.
Es handelt sich bei den Anomeren a-D-Glucose und b-D-Glucose somit nicht um spiegelbildliche Enantiomere, wie es die D-Glucose oder L-Glucose sind. Denn letztere sind chemisch identisch (abgesehen von den stereospezifischen Reaktionen mit Enzymen). Ihre Drehwinkel der Ebene des polarisierten Lichts unterscheiden sich nur dem Vorzeichen nach. Die Glucose-Anomere sind somit ein Beispiel für den Spezialfall der Stereochemie und der optischen Isomerie: Sie sind Diastereomere.
Die ansonsten tagelang andauernde Reaktion kann man durch Zugabe von Spuren einer schwachen Base wie Soda, Ammoniak oder natürlich auch Pyridin so stark beschleunigen, dass sich das Gleichgewicht fast augenblicklich einstellt. Die Reaktion zur Einstellung des Gleichgewichts bezeichnet man als Mutarotation (lat. mutare, verändern; rotare, drehen). Sie lässt sich mit Hilfe der Veränderung der optischen Aktivität der Lösung verfolgen. Das macht man durch Messung des Drehwinkels mit einem Polarimeter. Bild 3: Modernes Polarimeter. Vorn liegt die thermostasierbare Küvette
Bild 4: Messung der Änderung des Drehwinkels in wässriger Lösung; ausgehend von der a-D-Glucose (ohne basischen Katalysator) (Zur Berechnung dieser Kurve und der Kurven der folgenden Bilder 5 und 6 klicke hier.) Die Ursache für die Reaktionsbeschleunigung durch Basen ist, dass sie Halbacetale spalten, bei Zuckern also den Ring öffnen. Aus der auf diese Weise entstandenen Kettenform erfolgt ständig erneuter Ringschluss, begleitet von einem Richtungswechsel der Hydroxylgruppe am C-Atom 1 – wie Bild 2 zeigt. (Zur Chemie der Halbacetale klicke hier.)
Der spezifische Drehwinkel von reiner a-D-Glucose beträgt [a]a = +112,2°, die spezifische Drehung der b-D-Glucose ist dagegen nur [a]ß = +18,7°. Der Gleichgewichtswert in der wässrigen Lösung ist also keineswegs das arithmetische Mittel der Drehwinkel von jeweils reiner a-D-Glucose und b-D-Glucose. Zur Berechnung der Konzentrationen der beiden Anomeren muss man wissen, dass die Drehung des polarisierten Lichts proportional zu den Konzentrationen der optisch aktiven Substanzen ist. Das ist so ähnlich wie beim Lambert-Beerschen Gesetz, das für die photometrische Analyse gültig ist. Was dort der Extinktionskoeffizient el ist, ist hier die spezifische Drehung [a]. Es handelt sich in beiden Fällen um charakteristische Kenngrößen von chemischen Stoffen. Bei Mischungen von optisch aktiven Substanzen kann man die Werte der einzelnen Anomeren addieren und erhält so den Gesamtdrehwinkel der Mischung. Zunächst aber zu den Konzentrationen der Anomeren. Hier folgt die Rechnung. Keine Angst: Das ist Mathematikstoff der Mittelstufe… Das wäre doch mal eine Anregung für den praxisorientierten Mathematikunterricht.
Kombinieren wir die beiden Gleichungen, so folgt: Wir setzen co = 1 und setzen die oben genannten spezifischen Drehwinkel der beiden Anomeren ein. Dann erhalten wir die uns schon bekannten relativen Konzentrationen der beiden Anomere. Nun berechnen wir umgekehrt auch noch den Gleichgewichtsdrehwinkel. Die Abweichung vom in der Literatur zitierten Messwert +52,7 ° sollte man (wie wir bei der Auswertung zu Versuch 1 gesagt haben) nicht besonders überbewerten… Das folgende Bild 5 zeigt, wie sich die Drehwinkel der beiden Anomere im Verlauf der Mutarotation ändern. Bild 5: Kinetische Kurven zur Gleichgewichtseinstellung zwischen den Anomeren von D-Glucose in wässriger Lösung. Gestartet wurde mit der a-D-Glucose. Gezeigt wird, in welchem Umfang die beiden Anomere zur Änderung des gesamten Drehwinkels in Bild 4 beitragen Durch Addition der Ordinatenwerte dieser beiden Kurven erhält man die Messwert-Kurve in Bild 4.
Den kleinen Anteil an offenkettigen Formen kann man vernachlässigen. Das kann man mit dem bekannten Aldehydnachweis nach Schiff zeigen.
Bild 6: Kinetische Kurven zur Gleichgewichtseinstellung zwischen den Anomeren von D-Glucose in wässriger Lösung. Gestartet wurde mit der a-D-Glucose
Jetzt bleibt noch die eigentliche Frage dieses Tipps: Warum eigentlich ist die b-D-Glucose gegenüber der a-D-Glucose bevorzugt? Kann man das erklären?
Warum wird - wie wir gesehen haben - nur durch Änderungen des Lösemittels jeweils ein anderes Anomeres gebildet? Und warum entsteht in Wasser ein Anomerengemisch? Zunächst zur räumlichen Anordnung der Ringsubstituenten. Als energetisch besonders günstig und damit bildungsfreudig sollten sich jene Moleküle erweisen, deren Hydroxylgruppen die größten Abstände zueinander besitzen. Die Gruppen können entweder senkrecht zur Ringebene (man sagt auch: axial) oder horizontal (äquatorial) stehen. Betrachten wir noch einmal das Bild 2: Die beiden Hydroxylgruppen an den C-Atomen 1 und 2 der b-D-Glucose stören sich weniger als die bei der a-D-Glucose, die ja wohl deshalb nur zu 36 % vorliegt. Es ist also zu erwarten, dass sich immer das all-äquatoriale b-Anomere anreichert. Das ist aber nicht bei jedem Lösemittel der Fall – wie wir gesehen haben! Die Erklärung hierfür ist nicht einfach. Man muss dazu auch den Ringsauerstoff sowie dessen nichtbindende Elektronenpaare mit einbeziehen. In Bild 7 zeigen wir die Newman-Projektion der beiden Formen. Bild 7: Newman-Projektion der beiden Anomere von D-Glucose. Wir blicken vom C-Atom 1 auf die C-1-O-C-5-Achse.Die große Kugel symbolisiert das Sauerstoff-Ringatom. Eingezeichnet sind auch dessen zwei nichtbindende Elektronenpaare In Bild 7 sind auch die intramolekular wirksamen Dipole eingezeichnet. Der Dipolvektor der OH-Gruppe am C-Atom 1 ist blau markiert. Der resultierende Dipolvektor der beiden nichtbindenden Orbitale des Ringsauerstoffatoms ist rot gezeichnet. Die Darstellung ist schematisch; deshalb sagt die Länge der Pfeile nichts über die Größe des jeweiligen Dipolmoments aus. Diese Dipole stehen nicht für sich isoliert da, sondern unterliegen einer Wechselwirkung. Man spricht vom anomeren Effekt. Beim a-Anomeren stehen die Dipole nahezu gegenüber und kompensieren sich weitgehend, was zu einem Energieminimum führt. Beim b-Anomeren zeigen die Dipole in die gleiche Richtung und stören sich elektrostatisch, was zu einer Energieerhöhung führt. Der anomere Effekt wirkt sich also stärker aus als der sterische Effekt, den wir zuvor beschrieben haben. Der Energieunterschied zwischen den beiden Anomeren ist mit 1 kJ/Mol allerdings ziemlich gering. Deshalb sind im Gleichgewichtszustand in wässriger Lösung beide anomere Formen der D-Glucose nebeneinander zumindest in gleicher Größenordnung vorhanden.
Der Grund, dass das nicht so ist, liegt darin, dass beim b-Anomeren die starken Dipolmoleküle des Wassers von außen her das wirksame intramolekulare Dipolmoment stark abschwächen. Somit tritt wieder der potentialsenkende räumliche Effekt der all-äquatorial-Anordnung der OH-Gruppen in den Vordergrund. Resultat: In wässriger Lösung ist die Bildung der b-D-Glucose bevorzugt. In weniger polaren Lösemitteln wie Ethanol oder Dimethylformamid (DMF) gibt es bei der b-D-Glucose keine Abschwächung des wirksamen Dipolmoments. Hier liegt deshalb quantitativ die a-D-Glucose vor, die dann beim Abdampfen des Lösemittels auch entsprechende Kristallgitter bildet. Und wie wirkt das Pyridin, das ja zur quantitativen Bildung von b-D-Glucose führt? Diese bei Raumtemperatur flüssige aromatische Stickstoffbase ist nicht nur Lösemittel, sondern wirkt dazu noch katalytisch,
indem sie zunächst einmal als Base die Mutarotation deutlich beschleunigt.
Aber das ist schon wieder ein anderes Thema…
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