Bild 1: Traditionelle Glücksbringer zur Jahreswende
Bild 2: Fliegenpilz im Teutoburger Wald (Foto: Blume)
Um die 1930er Jahre hat man aus den Ergebnissen von vielen chemischen Experimenten für diesen Farbstoff (den man Muscarufin nannte) die folgende Strukturformel hergeleitet. Bild 3: Früher vermutete Struktur des roten Fliegenpilzfarbstoffs
Bild 4: Einer der Fliegenpilzfarbstoffe Die meisten Farbstoffe des Fliegenpilzes (es gibt mindestens sieben) sind übrigens chemisch verwandt mit dem Farbstoff der Roten Bete, dem Betanin. Sie enthalten alle eine typische, stark polare Konfiguration, die Betainstruktur. Im Bild ist diese Struktur rot eingezeichnet. Ein Betain ist eine Verbindung, die ein vierfach gebundenes („quartäres“) N-Atom (positiv geladen) und ein Säure-Anion (negativ geladen) trägt. Hierzu gehört zum Beispiel auch das Lecithin. Die Farbstoffgruppe nennt man Betalaine. Die verschiedenen Farbstoffe führen dazu, dass die Fliegenpilze auch unterschiedlich gefärbt sein können. So gibt es Fliegenpilze mit purpurnen, roten oder auch orangefarbenen Kappen. Hinsichtlich des Wandels der Strukturformeln muss man milde sein: Wenn man genau hinsieht, gibt es durchaus einige Ähnlichkeiten zwischen Muscarufin und Muscapurpurin. Die Analytik war damals um 1930 halt noch nicht so weit wie 1975 oder gar heute (mit Technologien wie dem NMR). Bedenken Sie auch, dass damals nur etwa 250 Milligramm der Substanz zur Verfügung standen!
Seine Vorläufersubstanz ist die Ibotensäure, aus der Muscimol durch Decarboxylierung entsteht. Der Heterocyclus heißt Isoxazol-Ring. Er gehört zu den elektronenreichen Heteroaromaten. Bild 5: Haluzinogene Substanzen des Fliegenpilzes Beide Substanzen haben strukturelle Ähnlichkeiten mit der GABA (g-Aminobuttersäure), einem Derivat der Aminosäure Glycin. Das ist eine wichtige Transmittersubstanz im Zentralnervensystem (ZNS). Genau genommen wirkt sie als ein inhibitorischer Transmitter (Ganglienblocker). Sie sorgt im Allgemeinen für Ruhe und Ausgeglichenheit. Die beiden Pilzgifte setzen sich statt der GABA in die GABA-Rezeptoren. Die Folge ist ein Rauschzustand mit Verwirrungen, Sprachstörungen, Müdigkeit und Trägheit, der aber auch mit Tobsuchtsanfällen verbunden sein kann. Hinzu kommt, dass sie (wie Glutamat) als starke Geschmacksverstärker für Salzig wirken. Ibotensäure und Muscimol sind somit alles in allem typische Haluzinogene. Das ist auch der Grund für ihren Einsatz bei religiösen Kulthandlungen europäischer und asiatischer Nomadenvölker, deren Schamanen sich mit Fliegenpilzen in Rauschzustände versetzt haben sollen. Dass die gelallten und gerallten Weissagungen dieser weisen Männer dann auch nicht so richtig verstanden werden konnten und somit frei interpretierbar waren, hat den Schamanen sicherlich geholfen, ihre Machtpositionen zu behaupten… Glücklicherweise ist der Fliegenpilz (Amanita muscaria) nicht so extrem giftig wie seine Verwandtschaft, die Gruppe der Knollenblätterpilze - wie zum Beispiel deren grüner Vertreter (Amanita phalloides). Ob das die Ursache für das Glücklichmachen war? Bekifft, aber nicht tot? Das stimmt nur bedingt. Man muss nämlich höllisch aufpassen, was die Dosis angeht!
Muscarin besitzt eine polare Struktur, die an die des Neurotransmitters Acetylcholin (AC) erinnert. Der Heterocyclus heißt Oxolan-Ring. Das ist nichts anderes als Tetrahydrofuran, ein gesättigter Heterocyclus, den man auch von der Fructose her kennt. Bild 6: Muscarin und Acetylcholin im Vergleich
Die Syndrome der Vergiftung entsprechen folglich denen, die auch bei der Einwirkung von Organophosphorverbindungen auftreten. Diese Ultragifte wirken bekanntlich, indem sie das Acetylcholin abbauende Enzym ACE hemmen. Deshalb dient Atropin auch bei Vergiftungen mit Fliegenpilzen als Antidot. Atropin ist ebenfalls ähnlich wie Muscarin und Acetylcholin aufgebaut. So kommt es zu einer Verdrängung des Muscarins aus den AC-Rezeptoren. Da Molekülgrößen und Polaritäten doch sehr unterschiedlich sind, unterbindet Atropin den anhaltenden Signalfluss durch die Synapsen des vegetativen Nevensystems. Zur Giftigkeit des Fliegenpilzes hat uns ein Leser geschrieben. Lesen Sie die Frage 1682.
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